Michael Hübl
Pseudolinearität
»Von Rodin bis Baselitz. Der Torso in der Skulptur der Moderne«
Staatsgalerie Stuttgart, 7.4. – 19.8.2001
Es gehört zu den dialektischen Zusammenhängen der modernen Zivilisation, dass sie das, was sie real zerstört, in der Kunst transzendiert. Je stärker etwa die kulturellen Besonderheiten kleiner Völker und Stämme bedroht sind, je deutlicher tradierte Lebensformen, wenn nicht ausgelöscht, so in videokompatible Folklore und Trachtenseligkeit umgewandelt werden, desto mehr öffnet sich die westliche Kunst für die Kultur bislang fremder, nur marginal beachteter Ethnien. Mithin ist es kein Zufall, dass just das 20. Jahrhundert ein gesteigertes Interesse an der skulpturalen Form des Torso entwickelte. Zur Bilanz der Verluste, die zwischen Belle Epoque und New Economy aufzumachen ist, gehören auch die Kunstwerke, die zerschlagen, zerschossen, zerbombt wurden. Der Angriff der rücksichtslos militanten “Koranschüler” (Taliban) gegen zwei prominente Beispiele vorislamischer Kunst in Afghanistan (das einmal ein produktiver Schmelztiegel hellenistischer und buddhistischer Einflüsse war) stellt nur die Verlängerung dessen dar, was die sogenannten Kulturnationen immer wieder wie selbstverständlich für sich in Anspruch genommen haben. Man könnte Dresden nennen, Montecassino. Oder Chartres: Dort wurde die Kathedrale ab dem 4. September 1914 wiederholt von der Artillerie des Deutschen Reiches unter Beschuss genommen. In einer ebenso faktenreichen wie entrüsteten Bestandaufnahme, die bald nach Kriegsende herauskam, schilderte damals M. Landrieux, als Curé Augenzeuge der Angriffe, was von den mittelalterlichen Kunstwerken übrig geblieben war: “Die überaus anmutige Königin von Saba auf dem Vorsprung des Strebepfeilers ist grausam verwundet: ein enthaupteter Oberkörper mit nur noch einem Arm, denn der Rest hat keinerlei menschliche…