Johannes Ullmaier
Pophistoire
Was das Reden über pop-immanente Kategorien betrifft, so ergibt sich zusätzlich die Schwierigkeit, daß diese vielfach einen Hang ins Irrationale aufweisen, der sie zwar keineswegs irrelevant, aber schwer zu handhaben macht. Selbst wo sie sich nicht ins Mythische verlieren, stehen Kriterien wie Groove, Swing, Drive, Blues (als Ausdrucksqualität), laid back, funky, Feeling, Härte, Speed etc. – als komplexe Konglomerate aus “faktischen”, ausdruckshaften und gehaltlichen Komponenten – der Integration in ein diskursives Begriffssystem zunächst entgegen. Inwieweit sie aber wirklich ein prinzipielles Problem darstellen und ob ihre genaue Analyse nicht doch meist einen relativ festen (wenn auch in sich vielleicht irrationalen) Bedeutungskern zutage brächte, mit dem man arbeiten könnte, wäre erst noch zu untersuchen.
In bezug auf die konkreten Kategorien, die für die Pophistoire – und damit zugleich für eine auch ästhetisch fundierte Kanonbildung – eine Rolle spielen könnten, kann hier nicht mehr als ein weitgehend assoziativer Katalog von Vorschlägen angeboten werden, den man in seiner Unvollständigkeit, seinen Ebenensprüngen und seiner Unordnung nicht zu ernst nehmen sollte. Er soll lediglich dazu dienen, den Rahmen anzudeuten, in welchem die Popmusik sich bewegt bzw. (angesichts der zahlreichen nur fakultativen Kriterien) bewegen kann. Zu berücksichtigen wären Phänomene wie:
Abgründigkeit
Abmischung
Abstraktion
Absurdismus
Abwechslungsreichtum
Adaptation
Ästhetizismus
Agogik
Aktivismus
Akzentuierung
Anlaßgebundenheit
Arrangement
Artifizialität
Artistik
Atonalität
Aufnahmetechnik
Auratismus
Ausdifferenzierung
Ausdruck
Authentizität
Avantgardismus
Banalität
Beat
Beschleunigung
Beseeltheit
Besetzung
Bizarrerie
Brachialität
Bruitismus
Choreographie
“Coolness”
Dekadenz
Destruktion
Diskursivität
Dramatik
Drogenbeeinflussung
Dynamik
Eigenständigkeit
Eklektizismus
Ekstatik
Emanzipation
Energetik
Entfremdung
Entspanntheit
Erhabenheit
Erotik
Esoterik
Existenzialität
Experiment
Exzentrik
Ferne
Form
Frequenzspektrum
Friedfertigkeit
Gehalt
Geschlossenheit des Ausdrucks
“Geschmack”
Geschwindigkeitsrausch
Glaubhaftigkeit
Härte
Harmonik
“Hipness”
Historismus
Hitpotential
Humor
Illusionismus
Imitation
Indifferenz
Informationsdichte
Innovation
Inspiriertheit
Instrumentierung
Inszenierung
Intensität
Image
Imitation
Improvisation
Ironie
Jugendlichkeit
Klangfülle
Klassizismus
Komik
Kommerzialität/Antikommerzialität
Komplexität
Komposition
Konsonanz/Dissonanz
konzeptionelle Stimmigkeit
Kostümierung
Kraft
Kritik
Kult
Lautstärke
lebensweltliche Anbindung
“Liebenswürdigkeit”
Literarizität
Live-Präsentation
Live/Studio-Atmosphäre
Meditation
Melodik
Monotonie
Moralität
Motivik
Motorik
Mythos
Negativität
Nervosität
Originalität
Orthodoxie
Parodie
Pentatonik
Phrasierung
Plagiat
Plattenhüllengestaltung
politisches Engagement
Präsenz
Präzision
Preßqualität
Programmatik
Psychedelik
Publikumseinbezug
Purismus
Räumlichkeit des Klangs
Rausch
Realismus
Reduktion
regionale Eigenheit
Religiosität
Repetition
Rhythmik
Romantizismus
Satire
schöner Schein
“Schönheit”
“schwarze/weiße” Musik
Selbstreflexion
Sexualität
Sound
Soundeffekte
Spielfreude
Steigerung
“Stil”
Stilallusion
Stilisierung
Stimmung
(instrumententechnisch und emotional)
Strophenform
Styling
Swing
Synästhesie
Tanzbarkeit
technische Fertigkeiten
Technizismus
Tempo
Text
Text-Musik-Verhältnis
Traditionalismus
Trance
Übertreibung
Unmittelbarkeit
Unrast
Ursprungsdenken
Variation
Verfremdung
Verzerrung
Verzweiflung
Vielschichtigkeit
Virtuosität
Vitalität
Vortrag
Vortragsstil
“Wohlklang”
Zeitbezug
Zerfahrenheit
Zitat
Zusammenspiel
etc., etc.
Mag die Aufstellung auch noch so disparat sein, so zeigt sich doch, wie weitgespannt der Kosmos der Popmusik ist. Brächte man Vollständigkeit und Ordnung in dieses Gewirr, entstünden die Voraussetzungen, den popgeschichtlichen Kanon um das zu ergänzen, was ihm Positivismus und Soziologie vorenthalten…