Nelson Aguilar
Polyphonie der Zeitkunst
Oder
Die Spannung zwischen Diastole und Systole
Profil der 22. Biennale von SÃo Paulo (1994)
Die 22. Biennale von São Paulo (12.10. bis 11.12.1994) dreht sich ganz generell um das Ausgangsmaterial, das als Nenner die zeitgenössische Kunst seit den 50er Jahren bis heute charakterisiert und ausmacht. Die Künstler selbst lehnen es ab, innerhalb eines abgesteckten Rahmens zu arbeiten, innerhalb der von vornherein festgelegten Grenzen von Leinwand oder formbarer Materie. Diese Haltung unterscheidet die zeitgenössische von der Kunst der Moderne.
Die Kunst der Moderne trachtete danach, die Welt in den flachen zweidimensionalen Raum eines Stückes Stoff zu zwingen, der über einen viereckigen Holzrahmen gespannt und mit Nägeln befestigt wurde. Der Übergang vom trügerischen Raum der Erneuerung, wie er von den Akademikern verherrlicht wurde, hin zum Selbstbekenntnis, daß “ein Gemälde im wesentlichen eine plane Oberfläche ist, die von Farben in einer bestimmten Anordnung bedeckt wird, bevor es zum Schlachtroß, zum weiblichen Akt oder zur Fabel wird” (M. Denis), erforderte zähes Ringen. Der Skandal, den Manet mit seinem Bild verursachte – ein Markenzeichen der Moderne für die meisten Kunstkritiker und -historiker – resultierte eher aus dem Fehlen der Grundierung, mit der all die Anhänger der Schönen Künste ihre Leinwände versahen, und eher aus Manets Art und Weise, die Gewebestruktur der Leinwand zur Schau zu stellen, als etwa daraus, daß auf dem Gemaälde – “Frühstück im Freien” – eine nackte weibliche Figur in Gesellschaft dreier bekleideter Herren zu sehen war. Die Kunst der Moderne machte zahllose Wandlungen durch, von Malewitschs weißem Gemälde bis…