Karl Gerstner
Plädoyer für eine demokratische Kunst
Liebe Freunde,
Vielleicht steht in Ihrem Pass auch: daß Sie “Künstler” sind?
Unsere gemeinsame Berufsbezeichnung ist unser gemeinsamer Nenner. Das Gemeinsame drückt sich darin aus: daß wir, sowenig wir unter uns gemeinsam haben, noch weniger irgendwo sonst einzuordnen sind.
Wir sind nicht links, wir sind nicht rechts. Wir sind unbequem: wir sind Non-Konformisten. Und auch das soll man nicht einfach so dahersagen können. Wir sind Non-Konformisten, die sich bisweilen auch als Konformisten tarnen. Meinetwegen als linke oder rechte.
Wir sind Gegen-den-Strom-Schwimmer -und sei es auch nur in der Art Beethovens, der eine Revolution dadurch einleitete: daß er eine Symphonie (seine erste) mit einer Septime anfing – ein Akkord, der bis dahin an den Schluß eines Stücks gehörte. Später sollte Goethe beim Anhören einer Sonate ausrufen: jetzt bricht die Welt zusammen.
Die Welt ist nicht zusammengebrochen. Und in der Entwicklung seither liegt zweifellos eine gewisse Logik: je mehr sich der Künstler als Individuum, pejorativ gesagt: als Individualist geriert, desto bereitwilliger geht die Gesellschaft davon aus: daß er eben ein Individualist ist – wodurch jede mögliche Wirkung automatisch geerdet wird. Duchamp versuchte herauszufinden, wie weit er gehen konnte und stellte ein Urinoir als Kunstwerk vor. Was ist passiert? Das Urinoir ist ohne große Umwege ins Museum gewandert.
Das ist das Neue an der heutigen Situation: daß eine Gesellschaft ihre Künstler als Nicht-Integrierbare integriert (nehmt alles nur in allem). Sie toleriert und honoriert sogar – in schicklichen Grenzen – ihre Störenfriedfunktion. Wie die Bäckersfrau, die in Kopenhagen bei einem Bilder-Ausleih-Dienst drei Bilder für…