Maurice Merleau-Ponty:
Phänomenologie der Wahrnehmung
Keinesfalls also geht das Wiedererkennen den Weg vom Vergangenen zum Gegenwärtigen; die Rede von der “Erinnerungsprojektion” ist nichts als ein schlechtes Gleichnis, hinter dem sich ein ursprünglicheres vorgängiges Wiedererkennen verbirgt. Ebensowenig schließlich ist die Korrekturillusion aus der Verschmelzung wirklich gelesener Elemente mit Erinnerungen zu erklären, die sich ihnen ununterscheidbar beimischten. Wie soll die Erweckung der Erinnerung vor sich gehen, wenn nicht auf Grund des Aspekts des eigentlich sinnlich Gegebenen, und was soll sie, so zum voraus orientiert, noch leisten, da mithin das betreffende Wort seine Struktur oder Physiognomie allen Rückgriffen auf Gedächtniserwerbe zuvor bereits angenommen hat? Grund zu jener Lehre von der “Erinnerungsprojektion” hat offenbar die Analyse der Illusionen gegeben. Sie gründet sich auf etwa folgendes Argument: Die Trugwahrnehmung vermag nicht auf “gegenwärtig Gegebenem” zu beruhen, da ich doch etwa “Deduktion” lese, wo auf dem Papier “Destruktion” steht. Der für die Gruppe str eingetretene Buchstabe d entstammt nicht dem Gesehenen, muß also anderswoher kommen. Woher also? Antwort: aus dem Gedächtnis. So genügt etwas Schatten und Licht in einem ebenen Bild, den Eindruck eines Reliefs hervorzurufen, ein paar Äste und Zweige suggerieren im Vexierbild die versteckte Katze, ein paar verworrene Linien in den Wolken das Bild eines Pferdes. Doch erst nachträglich kann die vergangene Erfahrung als Ursache der Täuschung erscheinen. Zum voraus muß das gegenwärtig Erfahrene Sinn und Gestalt gewinnen, um gerade diese und keine andere Erinnerung hervorzurufen. Das Pferd, die Katze, das unterschobene Wort, das Relief entstehen also in meinem aktuellen Blick. Schatten und Licht des Bildes…