ZOE LEONARD
PERIPHERE SICHT DER DINGE
Im Laufe des Winters 1997/98 fotografierte ich in New York Bäume, die um oder durch oder über Zäune, Tore und Umfriedungen gewachsen waren. Wenn ich draußen Fotos von ganz bestimmten Dingen mache, passiert es häufig, dass ich anfange, irgend etwas anderes wahrzunehmen. Die “Tree-and-Bag”-Bilder haben sich denn auch aus diesem anderen Werkkomplex entwickelt.
Als ich eines Tages die Avenue A hinaufging, die ich im Laufe der letzten 20 Jahre wohl fast täglich entlanggegangen bin, sah ich etwas, das mir nie zuvor aufgefallen war: Ein Seniorenwohnheim, ein großes Backsteingebäude, etwas zurückgesetzt vom Gehweg, mit ein paar Bänken, einem kleinen Rasen, einem Zaun. Es war ein strahlender Wintertag, die Bäume trugen kein Laub, doch es war immerhin so warm, dass einige Leute draußen in Mantel und Jacke auf den Bänken saßen.
ZEICHEN DES MENSCHLICHEN TUNS
Oben in den Bäumen hingen Dutzende von Plastiktüten im kahlen Geäst, die meisten weiß, manche schwarz, einige mit knallbunten Logos. Sie hatten sich in den Zweigen verheddert und bewegten sich leise im Wind. Manche blähten sich, andere wieder hatte der Wind zu Fetzen gerissen.
Dieses Bild fesselte mich auf der Stelle. Es erschien mir eigenartig, disharmonisch. Völlig undramatisch, aber doch überraschend. Ich glaube, ich empfand es als hässlich und zugleich als schön. Die Tüten waren zweifellos Abfall, den der Wind von der Straße hoch in die Bäume geweht hatte. Dennoch wirkten die Bäume festlich, seltsam geschmückt, wie für einen Feiertag. Die Leute auf den Bänken darunter schenkten den Tüten überhaupt keine Beachtung, aber ich blieb stehen….