On Kawara
Jenseits der Repräsentation
von Akiko Bernhöft
Spuren des Alltäglichen
Auf dem Blatt der Serie I Went verläuft rechts unten eine rote Linie auf der Schwarzweiß-Kopie eines Stadtplans durch mehrere Straßenzüge. Um welche Stadt handelt es sich? Ist dies die Dokumentation einer mentalen Wanderung oder wurde der Weg tatsächlich abgeschritten? Falls ja, im Eiltempo oder während eines gemächlichen Spaziergangs? Bis auf die aufgestempelte Datumsangabe am unteren Bildrand mit dem Hinweis „JAN 29 1971“ liefert das Dargestellte zunächst keine weiteren Informationen. Bei der abgebildeten Stadt handelt es sich um Honolulu.1 Dort hielt sich der japanische Konzeptkünstler On Kawara (1932–2014) an eben jenem Januartag auf und zeichnete mittels der Kugelschreiberlinie exakt nach, durch welche Straßen er sich fortbewegt hatte. Für diese Serie, die Kawara von 1968 bis 1979 ausführte, verzeichnete er während seiner intensiven Reisetätigkeit täglich auf insgesamt 4.772 Seiten die Laufwege eines jeden Tages durch verschiedene Orte, Städte, Metropolen auf verschiedenen Kontinenten und Meeren. Durch einen Perspektivwechsel brachte der Künstler auf dem Straßennetz der Karte seinen zuvor unternommenen Laufweg zum Vorschein und übersetzte ihn in eine visuell fassbare Bewegungsspur. In ihrer Gesamtheit ergibt die Serie einen persönlichen Atlas des Künstlers, den er mit weiteren Werkgruppen zu einer umfassenden phänomenologischen Dokumentation seiner Existenz ausbaute.
So listete er für die Serie I Met (1968–1979) mit der Schreibmaschine auf schlichtem Schreibpapier an jedem Tag alle von ihm getroffenen Personen auf. Bei der Serie I Got Up (1968–1979) stempelte der Künstler täglich auf gewöhnliche Touristenpostkarten seinen aktuellen Aufenthaltsort mitsamt der Uhrzeit, zu der er aufgestanden war, und sandte…