Ingo Arend
O Desejo da Forma – Das Verlangen nach Form
»Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien«
Akademie der Künste, Berlin, 3.9. – 7.11.2010
„Die Kurve ist die Natur“. Oscar Niemeyers Antwort war kurz und schlagend. Als der Schweizer Architekt Max Bill, damals legendärer Direktor des legendären Bauhaus-Nachfolgers „Ulmer Hochschule für Gestaltung“, 1953 Brasilien besuchte, entbrannte ein heftiger Streit. Bill warf der Architektur des Erbauers von Brasilia wegen ihrer spektakulären Plastizität „antisoziale Verschwendung“ vor. Lapidar verwarf daraufhin Niemeyer den strengen Funktionalismus, den die Konstruktivisten zum obersten (Kunst-)Gebot gemacht hatten. Und sein Mitstreiter Lucio Costa ergänzte: „Wir stammen nicht von Schweizer Uhrmachern ab, sondern von Leuten, die barocke Gebäude gebaut haben“.
Man könnte den Vorgang als amüsante Fußnote zur brasilianischen (Kunst-)Geschichte werten. Doch dann würde man die sehenswerte Ausstellung „Das Verlangen nach Form“ in der Berliner Akademie der Künste bloß historisch auffassen und damit missverstehen. Zwar erinnert sie an die hierzulande nahezu unbekannte Kunstrichtung der Neokonkretisten. Doch die „andere Moderne“, die diese dem lateinamerikanischen Kontinent bescherte und die in den einschlägigen Dokumentensammlungen der Avantgarden bis heute unerklärlicherweise noch immer fehlt, transportiert ein bis heute virulentes Versprechen.
Auf den ersten Blick wirken Arbeiten wie Lygia Clarks Bicho aus dem Jahr 1960, eine dreidimensionale Aluminiumskulptur mit beweglichen, in den Raum ragenden Flügeln oder Hélio Oiticicas rote und gelbe Raumreliefs wie Werke im Geiste der konkreten Kunst. Doch wer genau hinsieht, bemerkt, wie sich in diesen Objekten formale Strenge und dynamische, sensitive Energien verbinden. Lygia Clark selbst verstand die Art und Weise, wie die Einzelteile ihrer Skulpturen mit…