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Titel: Ästhetik des Reisens · von Vilém Flusser · S. 96 - 97
Titel: Ästhetik des Reisens , 1997

Vilém Flusser
Nomadismus 2000

Bedenken Sie, angesichts des sich nähernden Millenniumendes, die Geschichte unserer Art, da wir ja von der Geschichte der uns vorangegangenen Arten der Gattung Mensch zu wenig wissen, um sie bedenken zu können. Wir sind in der Steppe, zwischen den alpinen Gletschern und jenen der Pyrenäen, als Großwild jagende und Wurzeln sammelnde Nomaden vor etwa dreißigtausend Jahren auf die Szene getreten. Eine im Vergleich zum Alter der Gattung Mensch lächerlich kurze Spanne, etwa tausend Generationen. Vor etwa zehntausend Jahren bricht eine ökologische Katastrophe herein: Es wird täglich wärmer. Der Wald invadiert in die Steppe, er vereitelt alles vernünftige Jagen. Der Wald, dieser Todfeind des Menschen (wie alle Mythen, nicht aber die Grünen wissen), zwingt die Nomaden, Gras statt Fleisch zu essen, dieses Gras zu pflanzen, zu ernten und zu kochen, kurz: seßhaft zu werden.

Die Periode der Seßhaftigkeit, des dörfischen (auf griechisch: “politischen”) Lebens, geht allem Anschein nach ihrem Ende entgegen. Die Umkehrung des Informationsflusses (wonach die Informationen nicht mehr veröffentlicht werden, sondern direkt in den Privatraum fließen) macht den Dorfplatz (die Politik) überflüssig. Und die Vernetzung der Kommunikationskanäle, die mit Post und Telefon eingesetzt hat und die mit reversiblen Computerterminalen ihre technische (telematische) Reife erreicht, gestattet allen Beteiligten, überall und jederzeit an allem teilzunehmen. Somit bezeichnet die Jahreszahl 2000 jenen Punkt auf dem Zeitmaßstab der Spezies Mensch, ab welchem voraussichtlich die zehntausend Jahre währende Seßhaftigkeit als abgesessen anzusehen ist und in eine neue Form des Daseins, in eine neue Form des Nomadentums umschlägt.

Gewöhnlich nennt man die zwanzigtausend Jahre…


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