Nicht an die Götter, sondern an das Chaos glauben…
Eine neue Avantgarde in Frankreich?
von Marie-Luise Syring
Hätten wir es mit einem flotten Modehit zu tun, dann wüßten es bereits alle. Hier aber waren es die unterirdischen Kanäle, die Bücher, die man von Hand zu Hand reicht, einige geheime Bestseller der Philosophie, die Gerüchte über eine neue Mathematik und eine neue Religiosität, und nicht zuletzt die Suche nach einer Moral, die das Ereignis schufen: das Ereignis einer sich eben herausbildenden neuen Tendenz in der französischen Kunst.
Als solches erscheint nämlich der von vielen Künstlern neuerdings unternommene Versuch, verschiedene Diskurse, Stile, Techniken, also unterschiedliche Sprachformen und entfernte Epochen in ein und demselben Werk miteinander zu verknüpfen. Solche widersprüchlichen Diskurse haben immer schon existiert und in einer Art pluralistischen, liberalen Klimas nebeneinanderherbestanden. Bisher hatte man sie aber für unversöhnlich gehalten. Wer figurativ war, durfte nicht abstrakt sein, wer geometrisch war, konnte nicht heftig werden.
Heute haben die Maler begonnen, die Gestik mit der Geometrie zu verbinden; Programmation und Spontaneität, Automatismus und Kalkül, Figuration und Abstraktion werden vermischt. Anstatt sie gegeneinander auszuspielen, wie dies in der Geschichte der Avantgarde bisher immer der Fall war, läßt man sie nun aufeinander prallen und in ihrer Diversität wirken, Bildhauer arbeiten nicht mehr nur mit Volumen und Raum, sondern ebenfalls mit Pinsel und Farbe, Leinwand und Papier; Photographen formen ihre Aufnahmen, als seien sie Skulpturen, oder sie überlagern ihre Photografien mit Malerei. Sprachformen, die ursprünglich objektiv, sachlich und anonym erscheinen sollten, erhalten nun persönlichkeitsgebundene, subjektive, vielleicht sogar expressive Qualitäten. Mechanische…