Jutta Schenk-Sorge
Nan Goldin
»I’ll Be Your Mirror«
Kunstmuseum Wolfsburg, 15.2. – 4.5.1997
Stedelijk Museum, Amsterdam
Fotomuseum Winterthur
Leben ist Sex und Sex ist Politik”, davon ist die 43jährige Nan Goldin heute noch überzeugt. Sie gibt sich damit zu erkennen als geprägt von der Aufbruchstimmung Ende der 60er Jahre. Damals kam die Parole auf: Das Private ist politisch! Dieser Schlachtruf sollte die gesellschaftliche Brisanz des Aufbruchs zu alternativen Lebensformen unterstreichen und machte Mut zu eigenen Lebensexperimenten, die unversehens allgemeine Relevanz erlangten. In radikaler Form vermittelt Nan Goldins fotografisches Werk dieses Lebensgefühl und was daraus wurde. Ihre Chronik der laufenden Ereignisse von 1972 bis heute zeigt eine vom New Yorker Whitney Museum zusammengestellte Übersicht, die beeindruckt und Fragen aufwirft. Denn in Nans fotografischem Tagebuch, wie sie es nennt, herrscht schrankenlose Intimität. Sie will die “Glaswand” zwischen den Menschen zerbrechen, doch erinnert dieser Wunsch nach Nähe gelegentlich an die Kindheitsängste, nur nicht ausgeschlossen zu werden. Nan und ihre Kamera sind immer dabei: wenn Suzanne auf dem Bidet sitzt, Joey und Andres im Bett sind, Bruce sich die Augenbrauen bleicht, Bobby onaniert, René Crack raucht, Brian auf dem Klo hockt, Cookie stirbt, Gotscho trauert. Hinter diesem unersättlichen Kameraauge steckt ein unstillbares Verlangen, die Welt zu erfassen und festzuhalten. Dabei besteht für Goldin die Welt allein aus Menschen, aus Bekannten, Freunden, Liebhabern. Sie alle zählen zu ihrer “Familie”. Das eigene Elternhaus hatte sie bereits mit 14 Jahren verlassen. Sie entfloh der erdrückenden Vorstadtwelt der Suburbs von Boston, deren Enge ihre ältere Schwester erstickt und in den Selbstmord…