Irmgard Zepf
Nach-Denken über Vilém Flusser
Nachts
Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen…, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen. … Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein.
Franz Kafka
Vilém Flusser beeindruckte durch seine Präsenz, seine Geistesgegenwart. Seine inszenierten Auftritte fesselten das Publikum und brachten ihn als Person nahe, und doch lenkte er selbstvergessen von sich ab und deutete auf anderes. Den Ding-Charakter des Kunstwerks befreit er von seinem möglichen entfremdenden Fetischismus, indem er es zurückführt an seinen lebendigen Anfang:
“Es gibt die konkrete Geste des Malens, und in ihr verwirklichen sich Maler und Pinsel. … das gemalte Gemälde ist die erstarrte gefrorene Geste.”
Um die lebenserhaltende Notwendigkeit menschlicher Kommunikation und Interaktion plausibel zu machen, unterschreitet er hohe, abstrakte abendländische Ideale, indem er auch hier den Anfang der Menschwerdung vorstellbar macht, um von den elementaren Daseinsbedingungen, vom Alltag her, auf die lebensrettenden und menschenrettenden Gesten zu verweisen. Hierzu bemüht er – nicht ohne Humor – unsere nächsten Verwandten aus dem Tierreich:
“Um einzusehen, was sich in den Neunzigerjahren vorbereitet, zurück zu den Schimpansen. Sie klauben einander Flöhe. Täten sie dies nicht, würden sie sterben, denn Flöhe sind tödlich. Durch das gegenseitige Befingern erkennen sie einander: einer erkennt im anderen sich selbst wieder, nämlich als ein von Flöhen Bedrohter. Das gegenseitige…