2. Schnittstellen und Meditationen
Erinnerter Klang –
Musik und Mnemosyne
Von Hermann Danuser
Die Macht der Erinnerung ist in der Welt der Musik so groß, daß man sagen möchte, Musik ohne Erinnerung gebe es nicht. Natürlich gibt es sie doch – etwa bei John Cage, dessen Musikidee der Stiftung von Zusammenhängen, wie sie Erinnerung konstituiert, zuwiderläuft. Dies sind jedoch Ausnahmen, die eine Grundregel bestätigen.
Alle Kultur beruht auf Gedächtnis, ja Kultur ist Gedächtnis. Auch die Musik. Seit alters ist sie, nicht anders als die menschliche Sprache zumal in ihrer mündlichen Traditionsform, auf Erinnerung und Weitergeben angewiesen. Das menschliche Gedächtnis ist die Basis jeder Musikkultur, insofern als sowohl die Tonsysteme als auch die musikalischen Repertoires auf der erinnernden Überlieferung fußen.
Musikpädagogik zielt seit jeher auf Stärkung der Erinnerung. Bereits im Mittelalter machte man sich mnemotechnische Verse und Melodien zunutze, um die Grundformeln der melodischen Gestaltung innerhalb bestimmter Modi leichter memorieren zu können. In der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts schrieb der Musiktheoretiker Guido von Arrezzo an seinen Freund Michael von Pomposa: “Ich habe kurze Melodien geschaffen, die mit verschiedenen Tönen anfangen; Du wirst bemerken, daß die verschiedenen Teile steigende und fallende Verbindungen zu allen Tönen ergeben, die … am Anfang der Melodieteile stehen. Wenn Du durch Übung erreichst, daß Du jeden beliebigen Abschnitt irgendeiner Melodie singen kannst, dann hast Du in außergewöhnlich schneller Weise das Singen der schwierigsten und längsten Melodien erlernt” (Übersetzung Peter Gülke). Die von Guido mit dieser Zielsetzung komponierte Melodie, gesetzt auf die Verse des Johanneshymnus des Paulus Diaconus aus dem achten Jahrhundert,…