vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Titel: Imitation und Mimesis · von Horst Bredekamp · S. 278 - 288
Titel: Imitation und Mimesis , 1991

Horst Bredekamp
Mimesis, grundlos

1. Vom Zahlenchaos zum Bild

Einer der einflussreichsten Zukunftsentwürfe der Frühmoderne, Johann Valentin Andreaes “Christianopolis” von 1619, erträumt den utopischen Staat als ein brodelndes Laboratorium der Wissenschaften und Künste. Einer wohldurchdachten Stadtplanung gemäß liegen die Häuser der Malerei und der Mathematik Wand an Wand, weil die Malkunst, insofern sie “jagdscharfe Augen” vermittelt, als ein Modell der Naturerkenntnis gilt und weil nicht nur die Architektur, sondern auch “das technische Zeichnen für Maschinen und Statik {…} Teile oder vielmehr Genossen der Malerei sind”1. Das hier angesprochene Bündnis zwischen Kunst und Technik blieb bis in das achtzehnte Jahrhundert intakt, und wenn die gegenwärtig zu beobachtenden Prozesse nicht täuschen, findet es als Konsequenz des Siegeszuges digitalisierter Bilder eine nachhaltige Wiederauferstehung.

“Schönheit geht vor Wahrheit”2 – daß eine solche, mit dem Pathos eines Glaubensbekenntnisses versehene Formel kürzlich von einem Mathematiker vorgetragen wurde, ist ein Zeichen für die Intensität, mit der die Naturwissenschaften in die Felder der Kunst- und Bildtheorie drängen. Dieser Vorgang hat neuerlich utopische Züge, insofern er mit der Mimesistheorie und dem Kunstbegriff auch die Definition des Menschen und seiner Rolle in der Evolution grundlegend und heilsam zu verändern verspricht. Wie bei allen Zukunftsentwürfen aber bleibt auch hier fraglich, ob damit Heilsvisionen oder Alpträume beschworen werden.

Als Motor der Affinität der Naturwissenschaften zum Bildnerischen wirken der Aufstieg der Chaostheorie und die Visualisierung charakteristischer Chaosformeln, unter denen die Mandelbrot-Menge eine nun schon legendäre Berühmtheit genießt. Bei ihr wird eine variable komplexe Zahl ins Quadrat gesetzt und mit einer konstanten komplexen Zahl addiert, woraufhin das Ergebnis…


Kostenfrei anmelden und weiterlesen:

  • 3 Artikel aus dem Archiv und regelmäßig viele weitere Artikel kostenfrei lesen
  • Den KUNSTFORUM-Newsletter erhalten: Artikelempfehlungen, wöchentlichen Kunstnachrichten, besonderen Angeboten uvm, jederzeit abbestellbar
  • Exklusive Merklisten-Funktion nutzen
  • dauerhaft kostenfrei