Johannes Meinhardt
Michelangelo Pistoletto
»Memoria – Intelligentia – Praevidentia«
Kunstbau, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 27.3. – 23.6.1996
In einer historischen Lage der Malerei, in der die Trennung zwischen der ästhetischen Welt im Gemälde und der materiellen Welt des umgebenden Raumes, der Materialien und des Betrachters problematisch geworden war, hatte Michelangelo Pistoletto einen eigenen Weg gefunden, ästhetische und materielle Welt in einen chiasmatischen Kontakt zu bringen; er blendete gemaltes Bild und projiziertes Bild mit Hilfe des Scharniers `Spiegel-Bild’ ineinander. Vom Subjekt erzeugtes, gemaltes Bild und durch das Licht in der Spiegelung erzeugtes Spiegelbild brachte er dazu, ineinander überzugehen bzw. eine Zone der Unentscheidbarkeit zu erzeugen, in der beide miteinander nahezu verschmelzen. Schon 1961/62, also vor Fluxus und Minimal Art, die beide etwas später einsetzten, brachte er so die situative Realität des Betrachters ins optische Spiel des Kunstwerks selbst: er brachte dessen Wahrnehmung zu einer wörtlichen Realität, indem der Betrachter sich selbst in seiner Position als Betrachter im Kunstwerk erblickt, indem er sich in der Fläche oder Oberfläche des Kunstwerks spiegelt.
Der Beginn dieser Überlagerung und Verschmelzung von gemaltem Bild und Spiegelbild, von ästhetischer Fläche und situativem Spiegelbild, lag 1961 in einer plötzlichen Veränderung der Wahrnehmung, einem begründenden Ereignis: der Künstler, der Selbstportraits malte, sah nicht mehr nur das gemalte Sujet, sich selbst als Sujet, sondern auch, unwillkürlich, überraschend, sein faktisches und situatives Spiegelbild in der spiegelnden Oberfläche des Gemäldes. “1961 entstanden meine Selbstbildnisse auf goldenem, silbernem, bronzenem und hochglänzend-schwarzem Grund. Einmal begann ich wie üblich, auf einer großen, bereits mit spiegelnder schwarzer Farbe…