Judith Elisabeth Weiss
Mark Lammerts „Kinne“ und „Haare“
Zeichnerische Fragmente von Heiner Müller und Dimiter Gotscheff
Ein sehr großer Schädel auf einem kleinen Mann, der da am Tisch saß“ – dies war der erste Eindruck des bulgarischen Theaterregisseurs Dimiter Gotscheff, als er 1964 auf Heiner Müller traf. Legendär geworden ist Gotscheffs Philoktet-Inzenierung 1983 in Sofia, die Heiner Müller in einem berühmt gewordenen Brief begeistert und anerkennend kommentierte.1 Zwei statuarische Erscheinungen, zwei Gesichter, in die sich der Ernst und das Schweigen eingegraben haben: Heiner Müller mit ausgeprägtem Kinn, kantiger Brille und Zigarre und Dimiter Gotscheff mit markanten Gesichtszügen und eigenwilligem Haarschopf – auf vielen Fotografien sind sie zu Ikonen geworden.
Das Gesicht ist der privilegierte Schauplatz für die Persönlichkeit eines Menschen und hat wie kein anderer Teil des Körpers ein unüberschaubares Repertoire an Verbildlichungen hervorgebracht. Heiner Müllers kritische Reflexion des Realitätsgehalts von Sichtbarem stellt indirekt die Frage nach dem Porträt: „Spätestens das Fernsehen hat uns die Erfahrung vermittelt, dass die Welt um so irrealer wird, je realer wir sie abbilden. Täglich treibt es der Wirklichkeit die Wahrheit aus. Die totale Abbildung ist die totale Blendung.“2 Das Porträt als „totale Abbildung“ strebt nach Wirklichkeit und Wahrheit im Sinne von Abbildlichkeit und Übereinstimmung, während die Frage nach dem Verhältnis von Schein und Sein, Wahrhaftigkeit und Blendung die Porträtdiskussion im gleichen Zuge seit jeher beherrscht.3 Der Berliner Zeichner, Maler, Grafiker und Bühnenbildner Mark Lammert (*1960) stellt sich dem Problem der Darstellbarkeit des Menschen und der Möglichkeit, Ähnlichkeit zu schaffen, aus einer Haltung der Unabschließbarkeit. Seine Zeichnungen zu…