Jean Baudrillard
Lob der Singularität
Vom geteilten Subjekt zum unteilbaren Individuum
Do you never feel the need to be another? Haben Sie nie Lust, jemand anderer zu sein?
Die Geschichte der Individualität ist selbst eine ganze Geschichte. Aber diese Geschichte ist noch jung. Erst im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte hat die Bevölkerung der zivilisierten Länder das demokratische Privileg für sich in Anspruch genommen, Individuen zu sein. Das löste die Privilegien der feudalen Gesellschaft ab. Vorher waren die Menschen das, was sie waren: Sklaven, Bauern, Handwerker, Mann oder Frau, Vater oder Kind – aber jedenfalls keine «Individuen», keine «ungeteilten Subjekte». Seit 200 Jahren werden in unserer modernen Zivilisation dem individuellen Bewusstsein große Anstrengungen abverlangt. Seit 200 Jahren finden wir uns mit Gewalt in diese individuelle Existenz gedrängt.
Das Ich als Geisel der Identität
Wir kämpfen dafür, uns dieses «unantastbare» Recht auf Individualität zu bewahren. Alles drängt uns dazu, es um jeden Preis zu erlangen und zu verteidigen. Wir verlangen also diese Freiheit, diese Autonomie, wie ein fundamentales Recht des Menschen. Gleichzeitig brechen wir unter dieser Verantwortung zusammen, die uns dazu bringt, uns selbst als die, die wir sind, zu verabscheuen. Genau das schwingt in Hiobs Klage gegenüber Gott mit. Gott verlangt zu viel: «Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und gar dein Augenmerk ihm schenkst, dass du ihn heimsuchst jeden Morgen und jeden Augenblick ihn prüfest? Wie lange schon schaust du nicht weg von mir? Du gibst mir keine Ruh’, dass ich den Speichel schlucke.» (Hiob 7, 17 – 19)
Von diesem Moment…