FELIX PHILIPP INGOLD
Life is art enough
ZUM STATUS DER POSTMODERNE IN OST UND WEST
Die Postmoderne, so lautet hier die These, ist der Sache nach – wenn auch nicht vom Begriff her – eine Errungenschaft der russischen Kunstentwicklung dieses Jahrhunderts. Und sie wird in Russland heute, da sie in ihre letzte, ihre letztmögliche Phase tritt, mit einer Radikalität praktiziert, die erschreckt und zugleich fasziniert – und die nirgendwo sonst zu beobachten ist. Die russische Postmoderne setzt Kunst nicht mehr (nicht mehr primär) ins Werk, vielmehr wird Kunst unmittelbar ins Leben eingebracht. Im Leben geht sie auf und verliert, als Kunst, ihren ästhetischen Status wie auch ihren Sinn, verliert ihren Werkcharakter, kommt ohne die Funktion Autor aus. Diese These historisch herzuleiten und durch aktuelle Beispiele zu belegen, ist Gegenstand des nachfolgenden Versuchs.
Neue Autorschaft: Das Selbst des Werks
Dass die Postmoderne sich ex post auf jene Moderne bezieht, die man längst schon als die “klassische” bezeichnet, sei kommentarlos vorausgesetzt. Kommentarbedürftig ist aber, von inhaltlichen und formalen Spezifika einmal abgesehen, ihre unterschiedliche zeitliche Herausbildung in West und Ost. Die gemeinsame Ausgangsbasis bildet der künstlerische Epochenwandel zwischen 1910 und 1920, den man als die “Revolution der modernen Kunst” rubriziert hat und aus dem – in Ost und West gleichzeitig – eine Vielzahl von zumeist kurzlebigen Kunstismen hervorgegangen sind, militante Gruppenbildungen und innovative Gruppenstile, wie sie für die damalige internationale Avantgarde charakteristisch waren: Futurismus, Kubismus, Expressionismus, Dadaismus in Westeuropa, Ego- und Kubofuturismus, Rayonismus, Suprematismus, Konstruktivismus in Russland.
All diese Kunstismen (und andere mehr) stimmten, trotz lautstark ausgetragenen Differenzen,…