Jörg Restorff
Leselust
»Niederländische Malerei des Goldenen Zeitalters von Rembrandt bis Vermeer«
Schirn Kunsthalle, Frankfurt/M., 25.9.1993 – 2.1.1994
Das 17. Jahrhundert bescherte den Niederlanden nicht nur ein Goldenes Zeitalter der Malerei, sondern auch eine literarische Hochkonjunktur. Die wirtschaftlich prosperierenden protestantischen Nordprovinzen, die sich 1581 von den habsburgischen Erblanden abgenabelt hatten, wurden zum Eldorado der Bibliophilen: In keinem europäischen Land war der Bevölkerungsanteil derer, die lesen und schreiben konnten, so hoch wie hier. Nirgends sonst wurden im 17. Jahrhundert so viele Bücher gedruckt (in den nördlichen Niederlanden mehr als in allen anderen Ländern Europas zusammen).
Was lasen die Holländer? Bestseller schlechthin war die Bibel, für den durch die calvinistische Wortkultur geprägten Durchschnittsleser das Buch der Bücher und einziges authentisches Gotteszeugnis. Daneben fanden historische Werke, moralische Traktate, Emblembücher, Ratgeberliteratur, Romane, Novellen und Poesie guten Absatz.
Die Holländer waren nicht nur eine Nation von unermüdlichen Lesern, sie waren auch ein Volk von manischen Briefschreibern. Mit dem reinlich geschriebenen und gefällig formulierten Brief, der als Abspiegelung einer schönen Seele betrachtet wurde, gab der Adressant eine literarische Visitenkarte ab, die für sein weiteres Fortkommen von beträchtlicher Wichtigkeit war – besonders in Herzensangelegenheiten.
Kaum verwunderlich, daß die durch viele literarische Zeugnisse überlieferte hochentwickelte Lesekultur der Niederlande auch in der gleichzeitigen Malerei ihre Spuren hinterlassen hat. Zwar beharrt die Kunsttheorie im 17. Jahrhundert auf dem seit der Renaissance unstreitigen Vorrang des Historienbildes, doch de facto sah die niederländische Barockmalerei eine ihrer zentralen (weil absatzträchtigsten) Domänen darin, die Quisquilien des privaten Lebens festzuhalten. Wo Genrebilder häusliche Verrichtungen und gesellschaftliche Amüsements detailliert darstellen, wo…