HANNES BÖHRINGER
Lebenskunst revisited
IST LEBENSKUNST AM ENDE NICHTS ANDERES ALS STRUDELNDE AUFMERKSAMKEIT?
Im letzten Winter fand an unserer Kunsthochschule in Braunschweig eine Veranstaltunsreihe statt: “Meine siebziger Jahre”. Professoren verschiedener Generation erinnerten sich an das inzwischen nostalgisch gewordene Jahrzehnt nach Achtundsechzig. Die Vorträge waren ein großer Erfolg. Denn anschließend wurde zum Essen und Trinken eingeladen.
Auch ich mußte mich gemeinsam mit Dörte Eißfeld an meine siebziger Jahre erinnern: In deren erster Hälfte studierte ich an Universitäten und machte Examina, die zweite Hälfte verbrachte ich größtenteils mit Lehraufträgen an der Düsseldorfer Kunstakademie. Am Ende ging ich an die Universität zurück. Ich zog nach Berlin.
Beide Examensarbeiten, die ich schrieb, handelten von Lebensphilosophie, einer philosophischen Richtung am Anfang dieses Jahrhunderts, die später von der Existenzphilosophie abgelöst wurde. Die Lebensphilosophie sieht die “Existenz” des Menschen noch nicht herausgeworfen aus dem Welt- und Naturzusammenhang. Fast noch wie der ältere Begriff des Geistes umfaßt der des Lebens Natur und Geschichte. Meine Magisterarbeit hatte die Frühschriften von Georg Simmel (1858-1918) zum Gegenstand. Simmel war ein Phänomenologe des modernen Großstadtlebens.1 Am Ende aber schrieb der skeptische Beobachter eine Metaphysik des Lebens.2 Über einen seiner Schüler, Bernhard Groethuysen (1880-1946), schrieb ich meine Dissertation. In Simmels Denken vermißte Groethuysen die Geschichte als Vermittlung zwischen Alltagserfahrung und Metaphysik (“Weltanschauung”), die Anerkennung der Macht der Geschichte. Sie fand er bei dem älteren Wilhelm Dilthey (1833-1911). Für Dilthey und Groethuysen ist Leben Natur, die Geschichte hervortreibt und sich schließlich autobiographisch individualisiert: “Erlebnis”.3 (Noch war der Ausdruck nicht so heruntergekommen.)
Leiden an den Leidenschaften
Die Lebensphilosophie schreibt eine historisch-systematische…