Marius Babias
Lawrence Weiner
Städtische Kunstsammlungen Chemnitz, 23.10. – 4.12.1994
Wird ein Gegenstand umbenannt, lehrt die Linguistik, verschwindet seine ursprüngliche Bedeutung nach und nach aus dem Gedächtnis. Dieser Sprachprozeß dauert lange und verschiebt den Gegenstand mitunter bis in sein semantisches Gegenteil. Aber er kann kurzzeitig gestoppt werden, wiederum sprachlich. Eine solche Ausnahme von der Regel gelang Lawrence Weiner in Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt. Mit der Umbennung der Stadt veränderte sich auch die Sozialstruktur, obwohl die in mancherlei Hinsicht beispiellose Architektur stehen blieb. Aus dem ehemaligen Industriestandort wurde eine Industriewüste, aus Akademikern wurden Sozialhilfeempfänger, und die jetzt arbeitslosen Kohlekumpel verwandelten sich in Lumpenproletarier zurück.
Weiner, als Konzeptualist der ersten Stunde stets auch das soziale und politische Umfeld der Kunst mitberücksichtigend, erarbeitete ein Werk voller Anspielungen auf den Prozeß der sogenannten Wiedervereinigung, der besonders für die Ostdeutschen mit Frustration, falschen Hoffnungen und Erinnerungsverlust verbunden ist. Im Oberlichtsaal der Städtischen Kunstsammlungen ließ er eine vierteilige Schriftarbeit jeweils auf deutsch und englisch direkt auf die Wände malen. Titel: “Ohne Rücksicht oder/or without regard”.
Die Kurztexte, in Versalien der Schrifttype Margaret Seaworthy Gothic ausgeführt, stehen an den Quer- und Kurzwänden jeweils im englischen Original und deutscher Übersetzung neben- bzw. übereinander und sind topographisch so angeordnet, daß sie die Wandflächen ganz ausfüllen. Hier wurde kein Wortsalat angerichtet, sondern größtmögliche Lesefreundlichkeit erzielt.
Anders als in der politischen Propaganda kommt es Weiner auf die individuelle Interpretation an. Umberto Eco nennt diesen Akt der Aktualisierung von Bedeutung “Mitarbeit am Text”. Weiners Sprache und Diktion sind einfach, fast kinderleicht. Gebrauchstexte von spröder Eleganz. Textprobe: “Braunkohle/ verbrannt/…