Lassen sich künstlerische auf wissenschaftliche Innovationsprozesse abbilden?
NILS RÖLLER IM GESPRÄCH MIT HANS-JÖRG RHEINBERGER ÜBER DESSEN BUCH “EXPERIMENTALSYSTEME UND EPISTEMISCHE DINGE”
Hans-Jörg Rheinberger, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, erzählt detailliert die Geschichte eines Bausteins der Molekularbiologie und vergleicht die Arbeit im Labor mit der künstlerischen Arbeit. Er zeigt über den Zeitraum von 1942-1962 den Wandel der Krebsforschung im biochemischen Labor von Paul Zamecnik am MGH (Massachusetts General Hospital) in Boston, einer “unappetitlichen Küche, in der Extrakte aus Rattenlungen radioaktiv behandelt wurden. Am Beispiel dieser Detailstudie diskutiert der Autor das Verhältnis von technischen Neuerungen und wissenschaftlichen Neuheiten, und lehnt sich wiederholt an die “Formen der Zeit” des amerikanischen Kunsthistorikers George Kubler an.
Der Wissenschaftshistoriker betont die strukturelle Vagheit und die Neigung zur Abweichung innerhalb der Laborpraxis, die von Max Delbrück als “Prinzip der gemäßigten Schlampigkeit” bezeichnet wurde. Rheinberger zeigt am Beispiel von Zamecniks Labor, dass die Entdeckung des Neuen nicht kausal von den zur Verfügung stehesnden technischen Geräten verursacht wird, sondern von der Netzstruktur und den Freiheitsgraden der Forschenden abhängt. Zugleich wird bestätigt, dass für die Forschung maßgebliche Ergebnisse den Charakter von “unvorwegnehmbaren Ereignissen” haben. Zamecniks Vorgehen bezeichnet Rheinberger als “Techno-Opportunismus”. Der amerikanische Biochemiker konzentrierte sich damals nicht auf einzelne Methoden, sondern beschloss, mit einem “praktischen” Ansatz zu starten und “jede sich bietende neue Gelegenheit beim Schopfe zu fassen”. Das war opportunistisch, da sich zu diesem Zeitpunkt die zwei unterschiedlich reichen Quellen an Fördermitteln, die Mittel der Krebsforschung und die Mittel der Atomenergiekommission, mit der Schlüsseltechnik der radioaktiven Markierung nutzen ließen. Der…