Michael Hübl
Langzeitwirkungen
Radioaktive Malerei, die Schweiz, die Kykladen und ein verfehltes Vergil-Zitat
Wenn Zukunftseuphorie einmal so richtig Fahrt aufgenommen hat, dann scheint sie durch nichts zu bremsen zu sein. Dann rast sie weiter wie der „Edinburger Zug“ in Theodor Fontanes Ballade von der „Brück’ am Tay“. Oft löscht erst ein unerwartetes Ereignis (es muss nicht immer ein Unglück sein) die Hitze des Überschwangs und führt zu einer rational-analytischen Beurteilung der Möglichkeiten, die hinter einer naturwissenschaftliche Entdeckung oder technologischen Erfindung stehen. Nachdem etwa Marie und Pierre Curie im Dezember 1898 das chemische Element Radium entdeckt hatten, dauerte es nicht lange, bis der strahlungsaktive Stoff zu einem präsumtiven Wundermittel avancierte. Im böhmischen Joachimsthal, von wo die Pechblende stammte, mit der das Ehepaar Curie gearbeitet hatte, wurde das Forschungsergebnis rasch ökonomisch nutzbar gemacht. Der Ort erfuhr 2011 schlagartig erhöhte Aufmerksamkeit, als unter seinem tschechischen Namen ein Roman von Josef Haslinger erschien: „Jáchymov“ 1 betitelte der österreichische Autor seine literarische Darstellung der staatlich sanktionierten Verbrechen, die in der von der Sowjetunion (UdSSR) kontrollierten jungen Tschecho-Slowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) an Tausenden Zwangsarbeitern verübt worden waren. In der Frühzeit des Kalten Krieges mussten Deutsche, später mehr und mehr auch Tschechen, unter erbärmlichsten Bedingungen in den Joachimsthaler Stollen Uran abbauen, wo sie ungeschützt starker radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren2.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Dosierung noch kein Thema war, genoss Radioaktivität das unschuldige Ansehen des Neuen. Sie galt als eine Art Zauberkraft, der man erstaunliche medizinische und kosmetische Effekte zutraute. Und so erhielt Joachimsthal/ Jáchymov, wo 1906 das…