Simon Baur
Landschaft mit entfernten Verwandten
Der Titel ist einem Text Heiner Müllers entnommen und er ist symptomatisch für die folgenden Überlegungen betreffend einem schweizerischen Beitrag zur Idylle, ist doch der Ahnherr des Idyllischen bereits schon lange tot, wogegen sich seine Ideen bis heute erhalten haben. Doch es soll eine kleine Anekdote vorgezogen werden, die wesentliche Merkmale des Idyllischen aufzeigt, die sich, obwohl auf Vorurteilen beruhend, bis heute gehalten haben.
Romantische Zugfahrt
Wer die Gotthardroute mit dem Zug befährt, wird – nachdem er den Vierwaldstättersee mit dem Schillerstein und das Rütli, wo die drei Urkantone den Bund der Eidgenossenschaft gegründet haben sollen, erblickt und den Urnersee (auf dem Wilhelm Tell seinen Häschern durch einen mutigen Sprung aus dem Boot entkam, was Heinrich Füssli malerisch dramatisch umsetzte) umfahren hat – das Kirchlein von Wassen kaum übersehen können. Während der Zug in den Kehrtunnels, einer bautechnischen Meisterleistung des vorletzten Jahrhunderts, behände an Höhe gewinnt, ist das schmucke, weiße Barock-Kirchlein, vor auf saftigen Wiesen weidenden Kühen, bewaldeten Berghängen und verschneiten Felsen, wo Murmeltier, Adler und Gämse wohnen, dreimal hintereinander aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Auf gedrängtem Raum sind hier alle Stereotype und Klischees versammelt und es fehlen nur noch die süße Schokolade, das rezente Käse-Fondue, die Präzision der Uhren, die reichen Banken, die Verweigerung gegenüber der EU und der langsame Singsang der Sprache, um das Bild einer klassischen Idylle im Herzen Europas zu vervollständigen. Glücklicherweise hat dieses makellose Bild in den letzten Jahren durch Nazi-Gold, Swissair-Grounding und Swiss-Übernahme durch die Lufthansa einige Kratzer erhalten. Somit leben…