Georg Picht:
Kunst und Mythos
Die große Krise der Metaphysik hat auch die Idee der Apriorität ergriffen. Transzendentale Logik und jede mögliche Form von Dialektik impliziert, wie wir heute erkennen, notwendig Metaphysik. Aber wir können auf diese Metaphysik nicht mehr bauen. Hingegen wissen wir, daß unser Bewußtsein notwendig durch Erkenntnisformen und Erkenntnisgehalte konstituiert wird, die sich aus Gesellschaft nicht ableiten lassen. Bewußtsein ist nämlich – sei es auch nur, weil es von Sprache nicht getrennt werden kann – unaufhebbar kollektives Gedächtnis. Es bewahrt in sich, auch wenn es das nicht weiß, die Erinnerung an längst versunkene Phasen der menschlichen Geschichte und an ganz andere Formen von menschlichem Zusammenleben auf. Die unaufhebbare Differenz zwischen seiner Konstitution als kollektives Gedächtnis und seiner Bedingtheit durch aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse macht das Zum-Bewußtsein-Kommen des menschlichen Bewußtseins überhaupt erst möglich. Bewußtsein ist die Erfahrung dieser Differenz. Es ist die Erfahrung jenes Widerspruches, der die in dieser Gesellschaft kollektiv intendierte Anpassung unmöglich macht. Das kann man auch am Begriff der “Gesellschaft” ablesen.
Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1986