Kunst und Künstlertum
Eine Demystifizierung oder Die Begründung von Kunst als Denken
Dieter Mersch
Der Künstler ist ein Stehaufmännchen. Der maskuline Artikel adressiert die Maskulinität des Konzepts. Seit mehr als einem Jahrhundert wird ihm der Garaus gemacht – doch verhält es sich mit ihm wie mit Roland Barthes’ Bemerkung über den „Sinn“: „Jagen Sie ihn aus dem Haus, er steigt zum Fenster wieder ein.“1
1. Ein nicht enden wollender Sturz?
Unablässig in den kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskursen gescholten, geschlagen, abgewertet und kastriert, steht auch die Figur des Künstlers oder der Künstlerin sogleich wieder auf, und wird dabei aber jedes Mal kleiner. Deswegen die Verwendung der Diminutivform: Vom männlichen Grosssubjekt, dem herrschaftlichen Genie, dem kühnen Schöpfer ganzer Universen zum Männchen, zur Schwundstufe einer sich selbst ermächtigenden Kreativität.
– Roland Barthes hatte aus strukturalistischer Perspektive bereits in den 1960er Jahren den „Tod des Autors“ verkündet2
– Michel Foucault hatte den Begriff der Autorschaft als strategisches Dispositiv kritisiert, das nicht Grund, sondern Folge einer Dressur darstellt,3
– Jacques Derrida hatte zusammen mit den Grundfiguren der abendländischen Metaphysik auch die Illusionen der Selbstschöpfung, der Freiheit dekonstruiert.
Obschon also der Topos vom Untergang der sich seit der frühen Neuzeit etablierten Mythologie des Künstlersubjekts seit nunmehr 50 Jahren traktiert und traktandiert wird, hält sich der Mythos weiter aufrecht, als hielte sich seine Geltung im Zustand einer anhaltenden Agonie, eines nicht enden wollenden Sturzes. Wir fragen im Folgenden nach dem Schicksal des Konzepts der Autorschaft, um seine „Um-Schrift“, seine Verschiebung und Transkription vorzunehmen und um die Kunst, den…