Kunst und Anarchie
In der vorliegenden überarbeiteten Version der 1964 erschienenen sechs Vorlesungen von Edgar Wind (1900-71) geht es nicht etwa um die Kunst als anarchisches Instrument, sondern um ihr Verhältnis zu gesellschaftlichen Entwicklungen. Wind, der 1933 den Umzug der Warburg-Bibliothek nach London geleitet hatte und selbst aus Nazi-Deutschland emigriert war, entwirft hier die These, daß die Kunst zu Zeiten politischer Unsicherheit »ihre glänzendste Entfaltung« erlebte: Dazu führt er den politischen Zerfall Griechenlands zur Zeit Platons sowie die italienische Renaissance an. In Relation dazu untersucht er Themen wie die »Triebkräfte der Phantasie« und die »Disziplinierung der Einbildungskraft« nicht nur bei Goethe oder Baudelaire.
In der Annahme, daß »ein gewisses Maß an Unruhe und Verwirrung« schöpferische Kräfte freisetzt, steckt allerdings noch die Idee vom Genie, das aus einer amorph undefinierten Menge von chaotischen Gedanken und Intuition die kreativen Würfe in unsere Alltagswelt schleudert.
Wind liest bildende Kunst quer mit Musiktheorie, Literatur, theatralischem Ausdruck und Philosophie, um eine etwaige Autonomie der Kunst zu bestreiten. Die Kunsthistoriker, »selbst Teil der Geschichte und weit davon entfernt, sich dem künstlerischen Temperament ihrer Zeit entziehen zu können«, sind wie die Künstler in bestimmte soziale Prozesse eingebunden, die sich auf ihre Arbeiten beziehen lassen, ohne daß ihnen dies notwendigerweise bewußt sein muß.
Im Kapitel »Kritik des Kennertums« erliegt der Autor zwar noch dem irrigen Glauben des absoluten Kennertums, aber er veranschaulicht in Abgrenzung zu Max Friedländer sehr deutlich die Theorie Giovanni Morellis, der in den unbedeutendsten Teilen eines Werkes am genauesten das Formgefühl des Künstlers zu orten glaubte. Aus den Brüchen,…