Kreativität und Paradoxie
Fünf Thesen
von Dieter Mersch
These 1
Kreativität, kulturelle Innovation und besonders die künstlerische Produktivität wird meist gekoppelt an Erfindungen eines ‚Neuen‘. Die Frage ist, wie Neues als Neues erkannt werden kann, beziehungsweise wie wir es als ein solches überhaupt verstehen können.
Hintergrund:
Neuerungen in Kunst und Kultur werden meist mit Widerstand begleitet. Die frühen Konzerte der Neuen Musik (Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen) endeten in Prügeleien, ebenso – nach einer Phase des bürgerlichen Unverständnisses und der Ignoranz in Zürich – die Soireen der Dadaisten in Paris. Diese Ablehnungen sind weniger das Zeichen eines Ressentiments, als vielmehr einer systematischen Schwierigkeit, die man ‚epistemologisch‘ nennen könnte, und die darin besteht, dass Neues nur verständlich gemacht werden kann, wenn es auf ‚Altes‘ zurückbezogen wird, wovon es sich absetzt. Ein radikal Neues wäre, weil unbezogen, gar nicht verständlich.
Umgekehrt kann Neues aber auch nicht nur auf der Variation eines ‚Alten‘ beruhen (dasselbe, nur ein wenig anders), denn dann wäre es kein Neues mehr. Neuheit liegt vielmehr ‚irgendwo dazwischen‘, sodass wir es immer mit dem Problem seiner Interpretierbarkeit zu tun haben. Das Neue ist deshalb notwendig Gegenstand einer Beunruhigung, einer Unsicherheit in Bezug auf die Kriterien und Kategorien, die wir auf es anwenden und mit den wir es beschreiben können.
These 2
Damit eng verbunden ist die Frage: Wie entsteht Neues, mit welchen Mitteln erzeugen wir Neues, oder woher kommen Neuerungen? Das schließt die Frage nach den Organen ihrer Erfindung ein. Hier ergibt sich eine analoge Schwierigkeit oder Paradoxie,…