Konstruktionen des Erinnerns
Von Hans Ulrich Reck
Der Computer registriert wie selbstverständlich. Alles, jederzeit, dauerhaft, ohne Zu- oder Abneigung. Willenlos und stumpf. Er verfügt nicht über einen der wesentlichsten Sinne: Idiosynkrasie ist ihm fremd, Löschen prinzipiell ein Greuel. Deshalb fragt er nach, wiederholt und reichlich aufsässig: Wollen Sie “X” wirklich löschen? Datenvernichtung gilt ihm als Systemskandal.
Die Zeiten, Vergessen für einen Gegenstand wählenden Willens zu halten, sind bald wohl endgültig vorüber. Es braucht kein “als-ob” des Vergessens mehr: Die Kapazitäten sind ausgereizt, die Speicher trotz vorgeblich unbegrenzten Fassungsvermögens voll. Es fehlen die Selektionskriterien. Wer zu viel beiziehen kann, ist gelähmt und weiß nicht mehr, weshalb er, wenn er sich ohnehin nicht orientieren kann, weitere Quellen konsultieren soll. Ein klassischer Fall des durch die apriorische Blindheit der Logik der Forschung gegen die Widerstände des Realen erzwungenen soziopsychischen Handlungssyndroms “durch Pflege zerstört”: endlich realisierte Utopie universalen Verfügenkönnens, die den Zeitpunkt ihrer Realisierung einmal mehr als Aschermittwoch ihres Zerfalls erleben muß. Die Magie umfassender Archivierung schlägt zunehmend in den Alptraum um, mit Datenmengen nicht mehr selektiv umgehen zu können. Die Technisierung der Gedächtnisspeicher – vorgestellt als Vollendung des enzyklopädischen Ideals, in das der Fortschritt des Wissens als Teleologie der Geschichte wie als Emanzipation des Menschen einschießt – hat Automatismen des Bewahrens erzwungen, von denen keiner sich eine angemessene Vorstellung hat machen können. Neue Machtfelder entstehen. Wer durch die Selektionsfilter und -schwellen der Speicher navigieren kann, verfügt über einen Herrschaftsvorsprung. Informationsmengen werden im Gleichschritt digitaler Vergegenständlichung zu politischen Territorien. Die Speicher sind überlastet, das System ermattet, die…