Lothar Schmidt-Mühlisch
Keine Versuchung fürs Auge mehr
New Yorker Kunstausstellungen feiern den Formalismus in der Fotografie.
Hilton Krämer, New Yorks augenblicklicher Kunstpapst, verkündete jüngst in der ‘New York Times’ die ‘Feier des Formalismus in der Fotografie’. Er konstatierte damit eine Entwicklung, die nicht nur die New Yorker Kunstszene kennzeichnet, sondern die man ebenso bei Ausstellungen in London wie in Berlin oder beim letzten ‘Steirischen Herbst’ in Graz zur Kenntnis nehmen mußte. Selbst Japans Fotografen huldigen dem Formalismus-Prinzip, nur die Ästhetik als solche zum Inhalt von Kunst zu machen. So sieht man denn von Tokio bis New York: Feinkörniges, Grobkörniges, Perspektivverzerrungen, Kontraste, Überblendungen, kurz: die Spielerei mit dem Medium und seinen technischen Möglichkeiten.
Die Fotografie holt etwas nach, was die Malerei seit 30 Jahren vorexerziert hat unter der betagten Devise, die einst der Schirmherr des abstrakten Expressionismus, Clement Greenberg, gebar: flach, flacher, am flachsten.
Das Publikum wird nostalgisch
Neu ist das freilich auch für die Fotografie nicht, Moholy-Nagy und andere praktizierten dergleichen schon in den 20er Jahren. Hüten Kramer vermerkte denn auch ein anderes Novum: ‘Wenn es etwas Neues in der Fotoszene gibt, dann ist das nicht der Formalismus, sondern die Bereitschaft, diesen auch höheren Orts als bedeutend anzuerkennen.’ Er ließ uns auch nicht im Zweifel, wen er mit ‘höheren Orts’ meint -nämlich die Museen und Galerien; vergessen hat er nur, daß auch eine Reihe von Kunstkritikern wieder an dieser Kasteiung der Fotografie beteiligt sind. Nachdem die Fotografie gerade mit Mühe beim Publikum als Kunst durchgesetzt wurde, streifen die Priester der internationalen Szene wieder ihr Meßgewand…