Reinhard Ermen
Karin Sander
Klassische Zeichnungen sind das nicht. Man muss schon eine Weile hinsehen, bis klar wird, dass Karin Sander in dieser Serie zwischen 1991 und 98 mit Materialien des Büroalltags gearbeitet hat, also mit dem, was ein Locher an buntem Flitter hergibt, mit Kopierstiften, mit Filz- und Kugelschreibern, vor allen Dingen mit Heftklammern, die sich wie Anker der Konkretion in diesen Blättern (selbstverständlich DIN A-4) eingraben. So genormt und durchaus beschränkt die Materialstrategie erscheint, so offen ist das Ergebnis, bis hin zum Eindruck von Klassizität, sprich der Anmutung von abstrakter, auch heiterer Souveränität; die produktive Irritation einer armen Kunst mit eingeschlossen. Die eiserne Vorgabe der Konzeptualistin schließt Transzendenz nicht aus, manchmal ist sie geradezu unvermeidlich, wenn Sander 1998 in der Stiftung für Konkrete Kunst in Reutlingen 770 Blätter mit „Haarzeichnungen“. 80 Freunde und Bekannte hatte sie um je 10 Haare (ausgerissen bitte und nicht abgeschnitten) gebeten. Die lässt sie jeweils auf ein Papier fallen, es entsteht eine ausgesprochen individuelle Lineatur, mit haarfeinen aber deutlichen Unterschieden, ein leiser Auftritt von annährend acht Hundertschaften und gleichzeitig ein kollektives Psychogramm, dessen Ereigniss sichtbar, ja fühlbar ist, aber keinesfalls nachgerechnet werden kann. Denn das ist das Aufregende an dieser Vorgehensweise: Karin Sander entdeckt für sich ein Umfeld, einen gesellschaftlichen Raum und dessen typische Requisiten (es darf ruhig von Fundstücken gesprochen werden), sie entwirft ein Verfahren mit gelegentlich rigiden Gesetzmäßigkeiten und heraus kommt ein Ergebnis, dem im besten Falle so etwas wie Poesie eignet. Aber nur weil sie auf der einen Seite so streng,…