Rainer Unruh
Jochen Plogsties
»Küsse am Nachmittag«
Kestnergesellschaft Hannover, 21.11.2014 – 15.2.2015
So hat man die Mona Lisa noch nie gesehen: unauffällig eingereiht in eine Gruppe anderer Arbeiten, ohne Panzerglas und spektakuläre Inszenierung, ein Bild wie viele andere auch. Man ist sich sicher, dass das nicht das Original sein kann, aber man weiß nicht genau, was diese Kopie von dem Werk Leonardo da Vincis unterscheidet. Gewiss, da ist dieser seltsam abgeschabte Bildträger, der einem fremd vorkommt, aber wer von uns könnte beschwören, in welchem Zustand sich die Mona Lisa und das Pappelholz, auf dem die Farbe aufgetragen wurde, wirklich befindet? Immer vorausgesetzt, wir folgen nicht der kühnen Spekulation der US-Kunsthistorikerin Deborah Dixon, die behauptet, im Louvre hänge auch nur eine Kopie, weil das Original nach dem Diebstahl von 1911 nicht wieder in das Pariser Museum zurückgekehrt sei. Tatsache ist: Wir kennen das Werk von Reproduktionen in Büchern, auf Postkarten und im Internet, und selbst wer das (mutmaßliche) Original gesehen hat, dürfte zumeist keine Gelegenheit zum intensiven Studium gefunden haben, weil ihm der Pulk der Besucher vor dem populären Werk den Blick versperrt oder zumindest beeinträchtigt hat.
So steht man halb ratlos, halb neugierig vor dem Bild in der Hannoveraner Kestnergesellschaft. Und ertappt sich dabei, dass man auf einmal wieder genau hinschaut, die Stellung der Augen studiert, die Falten der Kleidung und natürlich das mysteriöse Lächeln der Frau. Man macht die paradoxe Erfahrung, dass eine Kopie des wohl am meisten kopierten Gemäldes der Kunstgeschichte einem die Augen öffnet für das, was dieses Werk…