Alexander Braun
Jochen Lempert
Museum Ludwig, Köln, 23.4. – 13.6.2010
Ausstellungen mit Fotografien von Jochen Lempert (geb. 1958) zu besuchen, ist wie wenn wir als Zeitgenossen von Walt Whitman eines seiner Bände von »Leaves of Grass« durchblättern könnten. Der amerikanische Dichter schrieb sein literarisches Werk zu Mitte des 19. Jahrhunderts nicht fort, in dem er immer neue Gedichtbände veröffentlichte, sondern indem er das EINE Werk mit jeder neuen Auflage modifizierte, Passagen ersetzte und neue hinzufügte. So auch Jochen Lempert: als würden wir dem Künstler über die Jahre bei seiner fortwährenden (Re-)Konstruktion der Welt über die Schulter schauen – eine Welt, die sich jedes Mal anders konstituiert, indem sie mit neuen Kapiteln überrascht, aber auch alte Bekannte in vorher noch nicht gesehenen Zusammenhängen wieder zur Aufführung bringt. Einem solchen künstlerischen Prozess liegt die Idee der Ganzheit zu Grunde, die ein ums andere Mal von ihren einzelnen, wechselnden Teilen bestätigend umkreist wird. Diese Auffassung verhält sich diametral zu Oeuvren wie z. B. dem von Thomas Ruff, das sich mit jeder neuen Motiv-Gruppe neu zu erfinden sucht und den jeweiligen Motiv-Kanon dann so lange penetriert, wie es der Markt erlaubt. Denkbar konträr zur Ästhetik der allgegenwärtigen Becher-Schüler verhält sich Lempert auch formal: seine Fotografien sind durchweg schwarzweiße Silbergelatine-Abzüge, nicht selten mit deutlich erkennbarem Korn auf sehr mattem Baryt-Papier, vom Künstler selbst abgezogen. Ihre überschaubare Größe gehorcht der Handhabbarkeit in seinem Hamburger Atelierlabor. Lempert verweigert seinen Abzügen zudem jede Form von Rahmung: Die Fotografien sind rückseitig direkt auf den Wänden befestigt. Keine Spur von Fotografie im…