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Titel: publish - IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion · von Hannes Bajohr · S. 150 - 159
Titel: publish - IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion ,

In der Asche des Digitalen

POSTDIGITALES PUBLIZIEREN HEUTE
von Hannes Bajohr

Ende Januar 2015 stand auf der Brooklyn-Seite des East River, nur ein paar Blocks von meiner Wohnung entfernt, ein Lagerhaus in Flammen. Noch Wochen später war in der Gegend der Schnee von Aschekrümeln schwarz gepunktet und man konnte in dieser Zeit oft Menschen beobachten, die sich interessiert auf den Gehweg niederbeugten oder etwas vom Boden aufhoben und es studierten. Das Gebäude lagerten Dokumente der Stadt New York. Angesengte Krankenhausrechnungen, Gerichtsprotokolle und Kontoauszüge waren zusammen mit der Asche in den Himmel gestiegen und lagen nun über ganz Williamsburg und Greenpoint verstreut. Obwohl aber knapp dreißigtausend Kubikmeter Papier verbrannten, gingen keine wesentlichen Informationen verloren: Die Stadt hatte alle wichtigen Dokumente bereits digitalisiert, und was durch das Feuer vernichtet wurde, war die materielle Redundanz des immateriell bereits Gesicherten.1

Wenn die Rede auf das „Postdigitale“ kommt, muss ich an diese Episode denken. Bereits in zwei Ausgaben von KUNSTFORUM International diskutiert,2 ist das Postdigitale seiner Popularität zum Trotz ein Begriff von einiger Vagheit. Im Kern ist damit dreierlei gemeint: die Durchmischung und das Zusammenwachsen analoger und digitaler Medien;3 eine Sehnsucht nach der „Humanisierung digitaler Technologien“;4 und eine Zeit, in der „das Wort ‚digital‘ nichtssagend geworden ist, seitdem fast alle Informations- und Kommunikationstechnologie digital funktioniert.“5 Unausgesprochen bleibt in diesen Definitionen das ihnen Gemeinsame, dass nämlich das Postdigitale vor allem eine Welterfahrung bezeichnet, die meistenteils unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt, wenn sie nicht eigens zu Bewusstsein gebracht wird – wie im Fall der versengten Dokumente im Schnee: Erst durch diese Überreste einer eigentlich obsoleten analogen Technik erfuhren die Bewohner Brooklyns überhaupt von diesen Daten und der Tatsache ihrer Digitalisierung.

Der Philosoph Hans Blumenberg hat gegen die „Technik“ den Begriff der „Technisierung“ abgesetzt.6 Technik schlägt sich als Tatsache in der Objektivität ihrer Artefakte nieder. Einmal eingeführt, ist sie da, nur um durch bessere, neuere Technik ersetzt zu werden. Technisierung hingegen ist die ständig fortlaufende Entwicklung, durch die Technik in den Hintergrund unserer alltäglichen Erfahrungen zurücksinkt. Blumenberg nannte dieses Alltagsbewusstsein mit einem Edmund Husserl entlehntem Begriff die „Lebenswelt“.7 Ist Lebenswelt für Blumenberg das, was in ihrer unzweideutigen Offensichtlichkeit allen Widerstand vermissen lässt, der sie für uns bemerkbar machen würde, bezeichnet Technisierung das langsame In-die-Lebenswelt-Sinken dessen, was einstmals künstlich, unnatürlich, aufdringlich und neu erschien.

Es scheint, dass wir heute, da das Aufkommen der Digitaltechnologie bereits mehr als eine Generation hinter uns liegt, einen Schwellenmoment einer solchen Technisierung erleben, der im Begriff des Postdigitalen aufgefangen wird. Die Tatsache, dass etwas digital produziert, verteilt oder rezipiert wird, ist nicht mehr das erste, was wir an ihm bemerken. Nur ein plötzliches Ereignis des Widerstands kann diesen Sachverhalt stören und ihn erlebbar machen. Die versengten Dokumente im Schnee sind ein noch gewissermaßen „natürlicher“ postdigitaler Unfall. Kunst dagegen kann ihn bewusst und kontrolliert herbeiführen und erfüllt damit die von Viktor Šklovskij proklamierte Aufgabe, durch das Verfahren des Ostranenie – der Verfremdung – eingefahrene Wahrnehmungsmuster zu „entautomatisieren“.8 Man kann dort von postdigitalem Ostranenie sprechen, wo Kunst versucht, durch Verfremdung sichtbar zu machen, was im Prozess der Technisierung des Digitalen unsichtbar zu werden droht. Anders als bei Šklovskij geschieht das nicht so sehr auf der Ebene von Diktion und Erzählperspektive, sondern im Bereich der künstlerischen Materialität selbst – auch dort, wo diese Materialität nur virtuell ist.

Die Tatsache, dass etwas digital produziert, verteilt oder rezipiert wird, ist nicht mehr das erste, was wir an ihm bemerken.

POETIK DER VERFREMDUNG

Um das Jahr 2010 herum entwickelte sich eine Form experimentellen literarischen Publizierens, zu dessen wichtigsten Akteuren die Gruppen Troll Thread und Gauss PDF gehören.9 Gemein ist ihnen, dass sie ihre Publikationstätigkeit ganz offensiv als künstlerische Praxis verstehen10 und im Spiel mit dem verwickelten Komplex von analog und digital eine implizite Poetik postdigitaler Verfremdung verfolgen.

J. Gordon Faylor, Betreiber von Gauss PDF, beschränkte sich anfangs allein auf die Bereitstellung von Dateien. Statt des Textgenres erhob er den Dateityp zur bestimmenden Ordnung, um neue literarische Konstellation zu ermöglichen (siehe das Interview auf Seite 166 in diesem Heft). So findet sich Sophia Le Fragas UND3RGR0UND L0V3R5 (Gauss PDF, 2015) im MOV-Format auf gauss-pdf. com. Das etwa achtminütige Video ist ein kontinuierlicher Screengrab einer Desktop-Oberfläche, die einen Chat im Twitter-Messenger zeigt; die ablaufende Konversation enthüllt sich als Re-Enactment von Jean Tardieus absurdem Drama Les amants du métro (1952) in einer digitalen Umgebung – Le Fraga spricht von einem „Comedy-Ballet without Dance or Music“. Auch Francesca Capones I Honor the Huge Blue (Gauss PDF, 2015) ist eine MOV-Datei, wobei in diesem Video Texte der Dichterin Lorine Niedecker in Wiederholungen und Gabelungen einem animierten konkreten Gedicht gleich über den Bildschirm mäandern. Der Effekt ist eine postdigitale Verfremdung: Der scheinbar kühl-technizistische Rückzug auf das Dateiformat unterläuft eingefahrene Gattungszuschreibungen und entautomatisiert auf einer rein kategorialen Ebene klassische Erwartungen an Literatur.

Eine ähnliche Remedialisierung und Appropriation vorhandener Werke findet sich in auch in Joey Yearous-Algozins Air the Trees (Gauss PDF, 2013), einem Text in Microsoft Words DOC-Format. Yearous-Algozin kopierte das Gedicht Air the Trees des amerikanischen Dichters Larry Eigner in ein Word-Dokument und stellte die Textfarbe auf weiß. Unter all dieser „Luft“ des versteckten Textes bleiben allein die „Bäume“ aus grünen und roten Schlangenlinien übrig, mit der Word Grammatikund Orthografiefehler anzeigt. Wo LeserInnen von Eigners Version nur physisch, durch Anstreichungen etwa, in den Text eingreifen können, sind sie in Yearous-Algozins Version gleichberechtigt mit dem Autor – auch wenn die implizite Einladung weniger in der Veränderung des Textes als der Variablen des Dokuments besteht: Nicht nur Schriftgröße, Zeilenumbruch und Format der Seite, auch Wörterbuchsprache und sogar Word-Version selbst bestimmt die sich ergebenden visuellen Muster. Air the Trees macht sichtbar, wie sehr softwareimmanente Parameter bei der Textproduktion ihre Finger im Spiel haben, und bringt die Instabilität jener Produktionsstufe zu Bewusstsein, die der fixen Druckseite normalerweise vorangeht. Gerade diese Instabilität im Übergang zwischen zwei Medien – der digitalen Datei und dem klassischen Buch –, erweist sich neben der Konzentration auf das Dateiformat als das produktivste Spielfeld postdigitaler Verfremdung.

PUBLIZIEREN „AUF ABRUF“

Yearous-Algozin gehört, zusammen mit Holly Melgard und Chris Sylvester, zum Verlagskollektiv Troll Thread. Seit seiner Gründung 2011 publiziert die Gruppe alle Werke zugleich als PDF-Datei und als gedrucktes, per Print-on-Demand (POD) hergestelltes Buch. Troll Thread können als Erfinder dieses dualen Publishing-Modells gelten; 2013 folgte Faylor mit dem Imprint Gauss PDF Editions und es hat seitdem viele Nachahmer gefunden.11 Die Vorteile des Digitaldrucks springen ins Auge: POD reduziert die Produktionskette auf ein absolutes Minimum – wie aus einem übergroßen Laserdrucker kommt in einem Schritt das fertige Buch, inklusive Bindung, Umschlag und Beschnitt. Bereits seit den Neunzigerjahren für größere Verlagshäuser attraktiv, um ohne Lagerkosten ihre Backlist lieferbar zu halten, hat doch erst die Möglichkeit der Nutzung für PrivatkonsumentInnen durch Firmen wie Lulu.com oder Blurb.com einer ganzen Subkultur postdigitalen Publizierens zur Blüte verholfen. Das gedruckte Buch, immer wieder totgesagt, ist hier nicht als Gegenmodell zum Digitalen, sondern gerade in Verknüpfung mit ihm wieder attraktiv geworden.12

Während fast jedes heute gedruckte Buch auf einem digitalen Master beruht, ist bei POD die Verbindung zwischen Datei und Objekt besonders instabil; aufgrund der Leichtigkeit der Produktion und Verbreitung, die ein Dienst wie Lulu bietet, kann es durch künstlerische und literarische Mittel untersucht, manipuliert und in krisenhafte Extreme gedrängt werden. Gerade weil jedes POD-Objekt auf einer PDF-Datei basiert, ist es kein einfach analoges Ding, sondern, mit mit Vilém Flusser gesprochen, ein Unding, dessen eigentümlicher ontologischer Status zwischen analog und digital oszilliert.13 Der Inhalt des PDF bestimmt nicht nur die Formatierung der Datei, auch ist die Datei durch die Vorgaben der Buchproduktion bestimmt, die wiederum die Poetik beeinflussen: Inhalt, Datei und Buchobjekt sind so miteinander verschränkt, dass sie jeweils aufeinander verweisen – postdigitaler geht es kaum.

Ein direktes Spiel mit dieser Verweisstruktur ist etwa Joey Yearous-Algozins 9/11 911 Calls in 911 Pt. Font (Troll Thread, 2012). Das Buch enthält ziemlich genau das, was sein Titel ankündigt: die ersten 911 Zeichen aus einem Telefonprotokoll von Anrufen bei der 911-Feuerwehrnummer am 11. September 2001 – das alles aber in der Schriftgröße 911, was den wenige Zeilen umfassenden Text auf über neunhundert Seiten dehnt, die auf zwei Lulu-Bände aufgeteilt sind. Die Buchstaben sind in dieser Schriftgröße zu riesig für die einzelnen Seiten des Buchs, der Text in seiner Überdimensioniertheit kaum mehr sequenziell lesbar. Öffnet man aber das PDF auf dem Computer und wählt den Text aus, kopiert ihn und fügt ihn in ein Textprogramm ein, werden die gesamten zwei Bände mit einem Mal erneut entzifferbar. Wieder ist – wie schon bei „Air the Trees“ – der Text „versteckt“, behält aber, hinter den Beschränkungen der Druckseite, in der Datei seine Lesbarkeit bei.

Inhalt, Datei und Buchobjekt sind so miteinander verschränkt, dass sie jeweils aufeinander verweisen – postdigitaler geht es kaum.

Das Spiel mit der merkwürdigen ontologischen Struktur von POD behandelt rechtlich besonders prekär das Buch Money, dessen AutorIn nur als „Maker“ bezeichnet wird (Troll Thread, 2012; siehe das Interview mit Holly Melgard in diesem Band). Jede Seite von „Money“ ist mit der Vorder- und Rückseite eines Dollarscheins bedruckt, was seine Herstellung zu einer Straftat werden ließe, könnte man angeben, wer effektiv für diese Geldfälschung zur Verantwortung zu ziehen wäre – neben AutorIn sind sowohl die KäuferInnen, die die Materialisierung der an sich legalen PDF in Auftrag geben, als auch der POD-Service selbst mögliche Kandidaten.

PERFORMATIVE ANEIGNUNG

Gerade die performative Dimension eines Werkes wie „Money“ macht deutlich, dass, wie die Medienwissenschaftlerin Whitney Anne Trettien schreibt, POD „die Grenzen zwischen Büchern, Faksimiles, elektronischen Dateien und Datenbanken neu umreißt und dabei die Beziehungen zwischen Lesern, Autoren und Herausgebern rekonfiguriert.“14 Daher kann auch nicht die Rede davon sein, es handele sich hier lediglich um im Digitaldruck hergestellte artist’s books, in der das Buch zum Medium und Ort des Kunstwerks wird. Ganz explizit distanzieren sich Gauss PDF und Troll Thread vom System der Kunst und betonen ihre Zugehörigkeit zur Literatur, auch wenn ihre Publikationen regelmäßig die Grenzen des traditionell Literarischen überschreiten. Wo bei Le Fraga und Capone die literarischen Bezüge trotz der Remedialisierung noch überdeutlich waren, macht sich in vielen Werken Literarizität nicht mehr an formalen oder inhaltlichen Kriterien, nicht einmal mehr an Textualität selbst, sondern allein am bloßen Publiziertsein im Medium des Buches fest.

In Liquidation von Holly Melgard und Joey Yearous-Algozin (Troll Thread, 2017) findet sich bis auf eine kurze Einführung überhaupt kein Text, stattdessen enthält es über dreihundert Fotos von der Abwicklung des bankrotten Casinos Trump Taj Mahal in Atlantic City. Auch Primary Source von Francesca Capone (Gauss PDF, 2015) ist weit von einem konventionellen Literaturverständnis entfernt: Es besteht aus Screenshots der iPhone-App WordLens, die ihr vor die Handykamera kommenden Text in Echtzeit, aber nicht immer ganz korrekt übersetzen kann, und der Capone die sowjetische Gedichtanthologie Den’ Poėzii (Tag der Poesie) von 1962 vorhielt; die von WordLens produzierten Varianten füllen das Buch.

Ohne Frage sind solche Gesten für eine Generation selbstverständlicher, die durch die konzeptuelle Literatur sensibilisierten worden ist – einer Literatur also, für die weniger der Inhalt, sondern die Idee hinter einem Text zählt.15 Lauren Klotzmans Meat Joy Error Failure (Troll Thread, 2015) – einer in einem Texteditor geöffneten Videodatei von Carolee Schneemanns Performance Meat Joy von 1964 – ist mit seinen 5000 Seiten aus Code-Rohdaten schier unlesbar, während Lawrence Giffins Non Facit Saltus Gauss PDF, 2014), dessen Seiten die Anweisung enthalten, wie man zur jeweils nächsten kommt, wenig mehr als ein Buch gewordener Algorithmus ist. Beide verlangen statt klassisch-hermeneutischem Lesen eine konzeptuelle Lektüre, erlauben so aber eine nahezu unendliche Breite an möglichen Inhalten.

Mit Sinn für historische Gerechtigkeit mag man darin die Rache der Literatur an der bildenden Kunst erkennen: Wo im zwanzigsten Jahrhundert die Kunst der große Allesfresser war, vom dem keine Gattung nicht verspeist werden konnte, fordert im einundzwanzigsten Jahrhundert die Literatur mit derselben appropriativen Geste ihre Eigenständigkeit wieder ein. Das geht so weit, dass selbst Ed Ruschas Twentysix Gasoline Stations (1963), das gemeinhin als das erste artist book gilt, von Angela Genusa als Twentysix Gasoline Station Prices (Gauss PDF, 2013) parodiert, dem Kunstsystem entrissen und wieder der Literatur einverleibt werden kann.

Die Abstammung von den kleinen Lyrikpressen Nordamerikas ist bei beiden Projekten unübersehbar, ebenso wie deren Zurückweisung als nostalgisch analog. Wo das beliebtestes Format der Lyrikpressen das oft handgebundene, bibliophile und in niedriger Auflage zirkulierende chapbook ist, betonen Gauss PDF und Troll Thread einen Stil des radikalen Do-it-yourself – einer „maker culture“, wie Annette Gilbert es nennt,16 die gerade keine regressive Sehnsucht nach Qualität, sondern die schnelle, einfache Produktion antreibt. Data Dumps nennen Troll Thread ihre Werke ironisch, was sich ästhetisch in einer stilbildenden Schlampigkeit wie einem Hang zur Überproduktion niederschlägt, der selbst wieder postdigitale Verfremdungseffekte zeitigt: Stephen McLaughlins Puniverse (Gauss PDF, 2014) etwa umfasst 57 etwa 160-seitige PDFs voller Kalauer, die durch die Anwendung eines Reimwörterbuchs auf einen Satz von Redewendungen generiert werden. Wohl ist Puniverse in seiner PDF-Form schnell herunterzuladen – und wird mit einer NFO-Datei ausgeliefert, die an die ASCII-Kunst früher illegaler Software-Bundles erinnert – doch die Möglichkeit, diese Bände auch per POD als physisches Buch in Händen zu halten, führt die Verschiebung von Maßstäben zwischen dem Analogen und dem Digitalen vor Augen: Big Data als Druckwerk erschiene im Kontext klassischer Lyrikpressen wie ein Kategorienfehler, ist aber gerade darin ein effektiver Fall postdigitaler Verfremdung.

Freilich ist der künstlerische Unabhängigkeit versprechende Digitaldruck Segen und Fluch zugleich. In How to stop worrying abt the state of publishing when the world’s burning and everybody’s broke anyways and all you really care abt is is if anyone is even reading your work (Troll Thread, 2016) erklärt Yearous-Algozin Schritt für Schritt, wie man eine eigene postdigitale Publikationsplattform aufsetzt – Bereitschaft zur Selbstausbeutung immer vorausgesetzt: „this is poetry, you shouldn’t be making a profit.

PRODUKTION UND IMMATERIELLE ARBEIT

Auch diese Kritik ökonomischer Strukturen aber kann postdigital in Szene gesetzt werden. Der ebenfalls mit POD arbeitende Künstler Jean Keller veröffentlichte 2013 sein Black Book (2013), einen Band von 740 Seiten – der von Lulu zugelassenen Maximallänge – der komplett schwarz ist. Eine Gallone Tinte kostet über 4000 Dollar, erklärt Keller auf der Lulu-Verkaufsseite, weshalb ein schwarzes Buch „für den Künstler die geringsten Kosten bei maximalem Wert“ ergebe. Eine solche Subversion, die in der Materialität des Werks selbst seine Aussage trifft, zeigt Autoren als Contentproduzenten, die im revenue stream für Firmen wie Lulu lediglich als Verrichter immaterieller Arbeit auftauchen.

Freilich ist der künstlerische Unabhängigkeit versprechende Digitaldruck Segen und Fluch zugleich.

Ähnlich stellt Holly Melgard in Reimbur$ement (Troll Thread, 2013) die Scans von Lottoscheinen aus, die sie im Laufe der Jahre im Zocken um die für die künstlerische Arbeit nötige Subsistenz angehäuft hat. Weil Lulu es seinen Autoren überlässt, den Verkaufspreis eines Buchs zu bestimmen, während der Produktionspreis derselbe bleibt, kostet Melgards Buch 329,53 Dollar – was ihren gesamten Glücksspielinvestitionen entspricht, »plus die Summe, die Lulu für den Druck berechnet«. Auf diese Weise wird bei Keller und Melgard das Ökosystem Lulu selbst zum Spielfeld einer institutionellen Kritik, die dergestalt noch ihre eigenen Enttäuschungen hyperreflexiv produktiv zu machen vermag.

Die Relevanz postdigitaler Literatur rührt von seiner Fähigkeit her, durch Verfremdung eine Instabilität zu adressieren, die auf einen allgemeinen Prozess digitaler Technisierung hinweist – sei es in seiner technologischen Form, bei der Untersuchung der ontologischen Oszillation zwischen Seite und Datei, Buch und PDF, digital und analog oder, wie Melgard und Keller es tun, in ihren sozioökonomischen Rahmungen. Die Medienwissenschaftlerin Sophie Seita sieht in dieser Bewegung eine Neue Avantgarde, die nicht mehr dem make it new folge, Ezra Pounds Schlachtruf der Moderne, sondern ein make it now fordere und sich in „though experiments in contemporaneity“ versuche.17  Diese Gegenwärtigkeit nicht aufzugeben mag auch für Faylor den Ausschlag gegeben haben, Gauss PDF einzustellen, sobald es die dreihundertste Veröffentlichung erreicht hat. Noch liegt dieser Punkt in einiger Ferne, aber mit Hysterically Real, SOd Press oder 0x0a hat Faylor bereits jetzt neue Mitstreiter gefunden, die in der Asche des Digitalen weiter die postdigitale Situation artikulieren.18

HANNES BAJOHR
Philosoph, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller; geboren 1984 in Berlin, Promotion über Hans Blumenbergs Sprachtheorie an der Columbia University, New York. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, wo er das Forschungsprojekt „Negative Anthropologie“ leitet; Mitübersetzer von Kenneth Goldsmiths „Uncreative Writing“ (Berlin: Matthes und Seitz 2017) und Herausgeber der Werke von Judith N. Shklar im Verlag Matthes & Seitz. Zuletzt erschienen „Code und Konzept. Literatur und das Digitale“ (Berlin: Frohmann 2016) und „Halbzeug: Textverarbeitung“ (Berlin: Suhrkamp 2018).
ANMERKUNGEN
1 Vivian Yee, „Fire at a Brooklyn Warehouse Puts Private Lives on Display“, in: New York Times, 1. Februar 2015.
2 KUNSTFORUM International, Nr. 242/2016 und 243/2016.
3 Alessandro Ludovico, Post-Digital Print: The Mutation of Publishing Since 1894, Eindhoven/Rotterdam: Onomatopee 2012.
4 Melvin L. Alexenberg, The Future of Art in a Postdigital Age: From Hellenistic to Hebraic Consciousness, Chicago: Intellect 2011, S. 10. Dabei wird nicht selten eine Rückkehr zu bewusst vor-digitalen Techniken propagiert, etwa dem Siebdruck oder, wie im Falle der Zine-Kultur, der Fotokopie. Siehe Anna Poletti, „Genre and Materiality: Autobiography and Zines“, in: Kiene Brillenburg Wurth, Kári Driscoll, Jessica Pressman (Hg.), Book Presence in a Digital Age, London: Bloomsbury 2018, S. 90-108.
5 Florian Cramer, „Postdigitales Schreiben“, in: Hannes Bajohr (Hg.), Code und Konzept: Literatur und das Digitale, Berlin: Frohmann 2016, S. 28-43, hier: S. 31
6 Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“, in: ders., Schriften zur Technik, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 163-202.
7 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag: Nijhoff 1976.
8 Viktor Sklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, in: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1971, S. 5-35.
9 trollthread.tumblr.com; gauss-pdf.com.
10 Dieses Schlagwort geht zurück auf Annette Gilbert, „Publishing as Artistic Practice“, in: dies. (Hg), Publishing as Artistic Practice, Berlin: Sternberg Press 2016, S. 6-39.
11 Das duale PDF/POD-Modell ist mittlerweile ein weicher Standard für experimentelles Schreiben und wurde bereits vom Kunstbetrieb kopiert. Die Zürcher Ausstellung „Poetry Will Be Made By All“, kuratiert von Hans Ulrich Obrist und Kenneth Goldsmith, zeigte 2014 Bücher von Autoren, die nach 1989 geboren wurden; auf der begleitenden Website konnten alle Titel entweder heruntergeladen oder als POD bei Lulu gekauft werden.
12 Vgl. Franz Thalmair, „Totgesagte leben länger: Das gedruckte Buch im postdigitalen Zusammenhang“, in: KUNSTFORUM International, Nr. 243/2016, S. 98-111.
13 Vilém Flusser, „Das Unding I & II“, in: Dinge und Undinge: Phänomenologische Skizzen, München: Hanser 1993, S. 80–89.
14 Whitney Anne Trettien, „A Deep History of Electronic Textuality: The Case of ‚English Reprints Jhon Milton Areopagitica‘“, in: Digital Humanities Quarterly 7 (1), 2013.
15 Vgl. Kenneth Goldsmith, Uncreative…


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