Jürgen Kisters
Hermann Nitsch
Schwarze Passionswand
Haus der Evangelischen Kirche, Köln, 16.12.1991 – 10.2.1992
Wenige Künstler haben den Rahmen der etablierten, größtenteils sauber-anständigen Kunstauffassung ähnlich radikal attackiert wie die Wiener Aktionisten seit den frühen sechziger Jahren. Dabei wollten sie nicht weniger als die Erfahrung der Kunst mit der Erfahrung des gelebten Lebens (wieder) auf eine Weise verbinden, wie sie in früheren kulturellen Ritualen ehemals selbstverständlich war. Sie taten dies hemmungslos und ungeschminkt, mit Unverschämtheit und aufs äußerste provozierend, mitten durch das Erleben von Verstümmelung, Angst und Ekel hindurch, bis an den Rand unaushaltbarer Widerlichkeiten. Hermann Nitsch, der diesen Ansatz seitdem weiterentwickelt, vielfach verwandelt, aber nie verlassen hat, ist bekannt für eine Kunst von äußerster Direktheit. Der (menschliche und tierische) Körper und seine Sterblichkeit stehen stets im Blickpunkt einer Kunstvorstellung, die im aufwühlenden Weg durch das Blut und den Schmutz des Lebens die größte Besinnung und Besänftigung sucht.
Darauf zielt Hermann Nitschs anspruchsvolles “Orgien-Mysterien-Theater”, der Versuch eines Gesamtkunstwerks, das der Künstler seit Jahren in seinem Schloß im österreichischen Prinzendorf aufführt; eine Form der Wiederbelebung verlorengegangener Ehrfurcht vor dem Leben, in dessen satten, blut- und farbgetränkten Zelebrierungen viele Kritiker allerdings nur ein effektvolles Spektakel des Widerwärtigen entdecken. Etwas als eklig abzutun, sagt jedoch nichts über die Macht seiner tatsächlichen Wirksamkeit und Bedeutung. Denn spätestens seit der Psychoanalyse wissen wir zumindest, daß auch der noch so vernünftig erklärte Ekel durchaus nur eine geschickte Form der Abwehr eines ehemals heftig gehegten Wunsches und grundsätzlichen Seelendilemmas darstellen kann. Hermann Nitschs Kunst führt schonungslos in derartige Abgründe unserer Wünsche…