Amine Haase
Grünewald und seine Zeit
»Ein Schrei hallt durch die Jahrhunderte«
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe und Musée d’Unterlinden, Colmar, 8.12.2007 – 2.3.2008
sowie die Zeichnungen im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 13.3. – 1.6. 2008
Der himmlische König, unser Herr Jesus Christus, der hing an dem Kreuz allein mit liebender Gottheit, mit sanfter Seele, mit betrübten Sinnen, mit verwundetem Herzen, mit brechenden Gliedern, mit zerschlagenem Leibe, mit blutigen Wunden, mit rissigen Beinen, mit ausgespannten Armen, mit verdehnten Sehnen, mit rufendem Munde, mit heiserer Stimme, mit bleichem Antlitz, mit totenblasser Farbe, mit weinenden Augen, mit schwindelndem Hirn, mit trauriger Gebärde, mit brennendem Kampf, mit ächzendem Herzen, mit seufzender Kehle, mit vorgeneigtem Haupte, mit erstarrtem Leib, mit gießenden Bächen des Quells des lebenden Wassers. Die Liebe brach sein Herz.“ In schier atemlosem Stakkato steigert sich der Text in Leiden und Tod. Und wäre es nicht der Tod Christi am Kreuz, der mit so drastischen Worten begleitet wird, man könnte es für ein Poem der Kriegsgeprüften Expressionisten-Generation halten. Die Beschreibung stammt aus einem um 1300 geschriebenen Gebetbuch für ein moselfränkisches Zisterzienserinnen-Kloster, nicht aber aus dem Berlin der 1918er Jahre. Und sie verleiht der gängigen Christus-Vorstellung der Gotik Ausdruck, wie sie auch in den Bildern der Zeit verbreitet wurde. Der Maler, der solch schonungslose Schilderung mit größter Genauigkeit in sein Medium übersetzte, war Mathis Neithart Gothart, genannt Grünewald. Sein Altar, um 1512-16 entstanden im Auftrag des Isenheimer Antoniterordens, der sich um die Kranken der Region kümmerte, ist die ungewöhnlichste Darstellung des Lebens und Sterbens Christi, die man…