Hermann Pfütze
Grundrechte sind schön –
zur Ästhetik des Grundgesetzes 1949 – 2009
1.
Die Grundrechte sind schön und machen schön, denn sie wecken die Lebenslust und ermöglichen die ästhetische Erfahrung der Welt trotz ihrer unschönen Widrigkeiten. Anders als Gesetze, Urteile und Gebote, regeln die Jedermannsrechte der ersten 20 Artikel keine bestimmte Praxis und schreiben keine Lebensweise vor, sondern sind als „unmittelbar geltendes Recht“ die Lebensgrundlage aller Menschen in Deutschland. Mehr noch: Die Grundrechte sind der einzige Kanon, der freistellt zu tun und zu lassen, was nach anderen Normen als unnütz, verwerflich, asozial oder schädlich gilt, wie zum Beispiel Schmutz und Verschwendung, Sucht und selbstzerstörerische Verausgabung, Hingabe an abwegige Dinge in Kunst, Wissenschaft und Religion, ein Leben ohne Wohnsitz und Arbeit. Wer nichts wagt und dumm bleibt, weder sich noch anderen Freiheiten und Lebensentwürfe zugesteht, mißachtet die Grundrechte und spielt denen zu, die sie einschränken möchten. Denn es geht nicht um die Freiheit der Gedanken und des Gebets in der privaten Kammer, sondern um Bewegungs-, Rede- und Handlungsfreiheit in der Öffentlichkeit und um das Rechtsgrundgefühl, sich nicht vor Willkür und Gewalt ängstigen zu müssen.
Nun könnte erwidert werden: Das ist der schöne Schein einer idealen Verfassung, von dem nach 60 Jahren nur ein schwacher Abglanz geblieben ist, eben jener oft beschworene Geist des Grundgesetzes, der selbst aus herben Grundrechtseinschränkungen, wie 1993 der des Asylrechts, sich nicht ganz vertreiben läßt. In der Tat sind die Grundrechte nur darum schön, weil sie sich praktisch nicht völlig ausnüchtern lassen, sondern einen, wenn auch schwachen, Rausch…