Marie Luise Syring
Großgeschriebene, kleingeschriebene und »geschichtete« Geschichte
Es gibt Kunstwerke, die auf einer bestimmten Idee von Geschichte basieren, und solche, die unmißverständliche Hinweise auf eine mehr oder weniger vom Zeitgeist definierte Geschichtsauffassung enthalten. Mit Geschichtsauffassung ist die Art und Weise gemeint, in der Geschichte erinnert, verstanden und überliefert wird, dann die Rolle, welche die Geschichte gesellschaftlich zum Zeitpunkt des Entstehens solcher Werke spielt, und nicht zuletzt das “Bild”, das man sich vom Geschichtsablauf selbst macht und mit Begriffen wie spiralförmig, linear, dialektisch, fortschreitend oder fließend umschreibt.
In der gesellschaftskritischen Kunst der späten 60er und frühen 70er Jahre etwa wurde häufig die Vergangenheit herangezogen, um die Gegenwart deutlicher vor Augen zu führen. Bild- und Wortzitate wurden in die Arbeit integriert, historische Momente isoliert und neu interpretiert, Ungleichzeitiges wurde in eine demonstrative Gleichzeitigkeit hineinversetzt. So rückte Vietnam in die Nähe von Auschwitz, und Übergriffe der Polizei gegen demonstrierende Studenten wurden mit dem historischen Faschismus assoziiert. In der engagierten Kunst jener Jahre betrachtete man offensichtlich die Weltgeschichte von einem Standort, der allen gemeinsam schien. Es läßt sich an vielen Beispielen des amerikanischen, italienischen, französischen oder deutschen Kritischen Realismus, wie auch des Konzeptualismus, erkennen, daß man im Zusammenhang mit einer Analyse zeitgeschichtlicher Ereignisse nicht nur die eigene Vergangenheit verarbeitete, sondern eine Vergangenheit, die als ein kollektives Erbe betrachtet wurde. Dieser Haltung, der ein gewisses, auch bewußt eingesetztes Pathos durchaus angemessen war, entsprach die Größe der Gesten sowohl im Bereich der künstlerischen Mittel, die angewandt wurden, als auch auf der Ebene der behandelten Sujets. Die Geschichte…