Horst Gerhard Haberl
Graz, ein Unort?
Graz, mit einer Viertelmillion Einwohner zweitgrößte Stadt Österreichs, Landeshauptstadt der Steiermark, historische Mitte des alten Innerösterreich im Südosten des Landes. Mythen der Gegenwart: Graz, die heimliche Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur, »ein Biotop«, wie das der Schweizer Autor Jürg Laederach einmal ausdrückte. Und Graz, die Stadt des ersten Avantgardefestivals – »steirischer herbst« – in Europa. Ist Graz Österreichs heimliche Hauptstadt der Avantgarde? Ist Graz Konkurrenz oder Ergänzung zu Wien?
Im Sinne einer Avantgarde ist die Vorgeschichte relativ bedeutungslos. Die Grazer Sezessionisten (sie unterschieden sich von den Wiener Secessionisten u. a. in ihrer Schreibweise mit »z«) waren international gesehen Paris-orientiert oder pflegten in religiös motivierten Künstlergruppen einen spätexpressionistischen Symbolismus. Bewegungen wie »Hagenbund« oder »Art Club« hielten sich von Graz ebenso fern wie der »Wiener Aktionismus«, obwohl ein Steirer, Günter Brus (er lebt derzeit in Graz), zu dessen hervorragendsten Protagonisten zählte.
Die Stunde Null einer spezifisch steirischen oder Grazer Avantgarde läßt sich erst in den späten fünfziger Jahren ausmachen. Am 30. September 1959 unterzeichneten Land und Stadt die Widmungsurkunde einer von dem Grazer Maler Günter Waldorf initiierten Künstlervereinigung, die an diesem Tag einen für ihre Zwecke umgebauten Café-Pavillon im Grazer Stadtpark bezog. Waldorf, der mit einigen Gleichgesinnten als von der Sezession abgespaltete »Junge Gruppe« neue Ufer anstrebte, fand massive Unterstützung bei der steirischen Tagespresse. Das »Forum Stadtpark« entwickelte sich in der Folge zum geistigen Mittelpunkt einer kulturellen Erneuerung, seine interdisziplinäre Gliederung in Referate für bildende Kunst, Architektur, Literatur, Musik (Jazz), Fotografie und Dokumentation entsprach zumindest formal den Vorstellungen einer disziplinüberschreitenden…