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Titel: Graffiti NOW · von Larissa Kikol · S. 46 - 45
Titel: Graffiti NOW ,

Graffiti NOW

Ästhetik des Illegalen
herausgegeben von Larissa Kikol

Man sieht es überall und versteht es doch nicht so richtig. Eine anonyme Parallelwelt im Verborgenen, nicht demokratisch, aber oft ein Zeichen für ein demokratisches Land: Graffiti; die vandalischen Bilder auf Zügen, Hausfassaden oder an Autobahnstrecken. Als Krisenphänomen einer Jugendgeneration geboren, als Abenteuerspiel verbreitet und als Kunstgattung entpuppt, bleibt die Graffiti-Bewegung eine nicht institutionalisierte Brutstätte für künstlerische Entwicklungen und Inspirationen des ästhetischen Ungehorsams.

Größen der Kunstgeschichte wie Cy Twombly, Jean Michel Basquiat, Keith Haring oder Cordon Matta Clark zeigen direkte Bezüge zu der illegalen Ästhetik. Ebenso die zeitgenössischen Künstler Katharina Grosse, Christopher Wool, Rudolf Stingel, Karin Sander oder Takashi Murakami, dessen Kaikai Kiki Galerie 2018 auf der Art Basel Hong Kong ihren Stand komplett mit Throw-ups besprühen ließ.

Als Fortsetzung der bereits 1982 erschienenen Ausgabe Graffiti und Wandbilder von Walter Grasskamp wird in diesem Band ein Blick auf innovative Positionen der Gegenwart geworfen. Das einst amerikanische Phänomen findet heute seine Hochburg in Europa. Insbesondere Frankreich und Deutschland weisen eine stark aktive, international bekannte Szene auf. Aus diesem Band ausgeklammert ist die florierende Street-Art, die zwar auf dem Kunstmarkt große Erfolge erzielt, aber dadurch auch den Blick auf die autonome Graffiti-Welt versperrt. Aber gerade dort, in der abgeschottenen, obsessiven Eigensinnigkeit der Produktion um Produktions willen, lassen sich künstlerische Werke finden, die ihren vandalischen Moment auch in der Störung einer konformen Massenästhetik finden.

In dem Essay Graffiti. Ein diffuser Nebel in der Kunstwelt – Ansätze für einen differenzierten Umgang mit dem Autonomen der Herausgeberin Larissa Kikol werden die Gattung ‚Graffiti‘ im kunstwissenschaftlichen Kontext aktualisiert, sowie die verschiedenen, künstlerischen Ebenen skizziert, wie die des Performativen, der Dimension der geographischen Bespielung und der Postproduktion.

Anschließend zeigt Werke im Verbotenenen – Positionen der freieren Graffiti-Malerei ein Aufbrechen des klassischen Graffiti-Dispositivs durch neue, expressionistische, malerische Positionen, die als markante Beispiele der zeitgenössischen Entwicklungen stehen.

Ein Blick auf die historische Verbreitung wird in Von New York nach Europa geworfen. Der Fotograf Henry Chalfant erzählt von den Anfängen in New York sowie seiner Jagd nach den Zugbildern der Straßenkids für die Arbeit an Subway Art mit Martha Cooper. Der Kunsthistoriker Martin Papenbrock analysiert Schriftzüge der 80er Jahre in München und der Sprayer Rap gibt Einblicke in die Pariser Undergroundszene der 90er Jahre und dem dazugehörigen Alltagsleben im Illegalen.

In Aktuelle Lageberichte plädiert Rechtsanwalt Patrick Gau für einen lockereren Umgang der Justiz mit den Sprayern und erklärt Verteidigungsstrategien vor Gericht. Die Werke des Duos Moses und Taps zählen zum Konzept-Graffiti. Sie bauen Mauern in Zugtüren, spielen mit der Frage der Publizität, dem Tabu des Namenstausches und hinterfragen immer wieder die Grenzen und Werkbegriffe des Graffitis. Die Crew 1up reflektiert, wie die Stadtarchitektur Berlins ihren Stil beeinflusste und verrät, dass Sprayer durch selbst angebrachte Überwachungskameras Wachleute vor Ort ausspionieren. Ihr Video Olympics zeigt außerdem neue Maßstäbe im Genre des Graffiti-Regiefilms.

Robert Kaltenhäuser und Georg Barringhaus debattieren in der Falle von Stadtmarketing und Urban Art – Über die Probleme von Graffiti als Kunst im öffentlichen, urbanen Raum wie Immobilienfirmen sich die Graffiti-Aura zu Nutzen machen und warum Blu sein legendäres Wandbild in Berlin-Kreuzberg wieder übermalte. Der Aufsatz Vom Wert des Ungehorsams Wild, verboten, antiautoritär: Topseller für den Markt und Vitamindrink für die Gesellschaft geht den kapitalistischen und politischen Aneignungsstrategien der Aura des Vandalismus nach. Nicht nur französische Präsidenten suchen die Aufwertung durch das Wilde und Ungehorsame. Es ist auch ein wichtiger Anteil einer gesunden, demokratischen Gesellschaft.