Johannes Meinhardt
Giulio Paolini
Staatsgalerie Stuttgart,
20.9.-2.11.1986
1960 verfertigte Giulio Paolini sein erstes Bild, den ‘Disegno geometrico’. Auf einer grundierten Leinwand, deren Seitenlängen zueinander im Verhältnis 2:3 stehen, findet man die beiden Diagonalen, die beiden Mittelsenkrechten, und die feinen Zirkelschläge, die zur Ermittlung des goldenen Schnittes dienen. Im Mittelpunkt der Bildfläche laufen die Linien wie die idealen Fluchtlinien einer perspektivischen Konstruktion zusammen; Augenpunkt, Horizont und Fluchtlinien sind so idealtypisch vorgegeben, die Räumlichkeit des Bildes damit schon konstruiert, ohne daß irgendwelche Darstellung einen realen Raum sichtbar machen würde. Räumlichkeit wird so sichtbar als virtuelle Verfassung des Blicks, als eine ‘Einstellung’ des Blickes gegenüber dem Gemälde, die jedem erkennenden und identifizierenden Sehen vorausgeht. Zugleich aber zeigt sich, daß die Diagonalen nicht nur Fluchtlinien des virtuellen Raumes sind, sondern auch geometrische Grundbestimmungen der rechtwinkligen Fläche; diese könnte sich entlang ihren Diagonalen beliebig vergrößern oder verkleinern, ohne die Raumverfassung zu beeinträchtigen. Die Mittelsenkrechten greifen dieses Thema von Außen auf; durch sie wird die reale Fläche in vier identische Teilflächen mit denselben Relationen geteilt, welche das Gemälde einerseits als Einheit mehrerer Teile, die das Ganze schon in verkleinertem Maßstab abbilden, sichtbar machen, als auch als Vervielfältigung eines kleineren Gemäldes, welches sich in Reihen identischer Elemente potentiell unbegrenzt auszudehnen vermag. Die ‘Einheit’ des Bildes wird so zum Problem: es ist zugleich zusammengesetzte Fläche, deren Form gegenüber der Form der Einzelheit kontingent ist, wie ein virtueller Raum, den das Auge konstruiert, bevor noch etwas zu sehen ist. Solcherweise ist der ‘Disegno geometrico’ kein Bild, sondern die Konstruktion a priori,…