Michel Thévoz
Ghetto, Grass Roots & Hospital Art
Jean Dubuffet stellte fest, und niemand wird widersprechen: “Jeder Mensch kann malen, so wie jeder Mensch sprechen kann.” Zu mehr Diskussion gab und gibt der Satz von Joseph Beuys Anlass: “Jeder Mensch ist ein Künstler.” Gemeint war, dass jeder Mensch in der freien Gestaltung sein Zentrum erkennen müsste. Die auf den nächsten Seiten porträtierten Menschen, von den einerseits lernbehinderten und gefährdeten Halbwüchsigen, andererseits psychisch Kranken und geistig Behinderten in den Peripherien New Yorks (Ghetto Art), zu den älteren Menschen im abgelegenen Vermont (Grass Roots Art) bis zurück zu den in New Yorker Kliniken internierten Geisteskranken (Hospital Art), sie alle haben eines gemeinsam: ihr angeborenes, kindliches Künstlertalent wie auch ihre kindlichen Bewegungs- und Aktionstriebe, durch unsere Kultur underdrückt, wurden zu neuem Leben erweckt. Die Wiederkehr der wiedergefundenen Kindheit thematisiert der untenstehende Text von Michel Thévoz, dem Leiter der “Collection de l’Art brut” in Lausanne:
Zu den Veränderungen, die die Entwicklungen der westlichen Kultur geprägt haben, gehört paradoxerweise die Veränderung des künstlerischen Impulses. Alle Kinder zeichnen, tanzen, singen, mimen usw… Fast alle Zivilisationen vor unserer liessen die Entfaltung von Trieben kollektiv zu, indem sie in Riten und symbolische Handlungen integriert wurden, wobei alle Mitglieder der Gesellschaft einbezogen wurden. Unsere Kultur aber ist gekennzeichnet durch eine allgemeine und definitive Unterdrückung dieser Triebe, so dass ein etwa zehnjähriges Kind nicht mehr zeichnen, singen, tanzen kann oder mag. Der Künstler ist ein Überlebender oder ein Spezialist, auf jeden Fall ein aussergewöhnlicher Mensch, genauer gesagt eine Ausnahme zu der Regel…