HANS SANER
Gespräch über die Utopie
EXPERIMENTALUTOPIE ALS LEBENSFORM FÜR GEMEINSCHAFTEN
FRAGEN VON PAOLO BIANCHI
Paolo Bianchi: Ist der Zeitgeist utopiefeindlich?
Hans Saner: Wir stehen vor einer Jahrhundert- und einer Jahrtausendwende. Da stellen sich den Menschen unweigerlich Fragen: Was wird aus den einzelnen Ländern? Was aus Europa? Was aus der Welt? Nur in Bezug auf eine dieser Fragen zeigt sich, gleichsam am Horizont, eine Utopie: Die 3000jährige Geschichte der Kriege in Europa könnte an ein Ende kommen. Ich jedenfalls habe diese Hoffnung – trotz Bosnien, trotz dem Kosova und trotz der gefährlichen Isolation einiger Oststaaten und unter ihnen vor allem Rußlands im heutigen Europa. Ich würde also meinen, daß der Zeitgeist, zumindest in Europa, nicht utopiefeindlich ist.
Wann wird utopisches Denken wirklich gefährlich?
Als nach den Sommerereignissen 1989 in Osteuropa das “Ende der Geschichte” ausgerufen wurde, ging auch das Wort vom Ende der Utopie um. Ist das Ende utopischer Radikalität erreicht?
Zuweilen ist der Zeitgeist ironisch. Die These vom “Ende der Geschichte” wurde von Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa lanciert. Fukuyama war damals Direktor des Planungsstabes im Außenministerium der USA. Der Gedanke als solcher, daß es überhaupt ein “Ende der Geschichte” geben könnte, ist aber ein marxistischer und darüber hinaus ein religiös chiliastischer Gedanke. Marxistisch gefragt: Was soll die Geschichte noch, wenn sich die Weltrevolution überall durchgesetzt hat? Sie hat ihre Aufgaben gemacht – und nun ist sie überflüssig. Das bedeutet natürlich: Die Welt kann stillstehen, wenn das hehre Ziel erreicht ist, daß das Proletariat überall die Produktionsmittel in seine Hände gebracht…