Michael Hübl
Gerhard Merz
»Klassik statt Sex Pistols«
Kunsthalle Baden-Baden, 14.3.-20.4.1987
Nagt an Gerhard Merz die Gnade der späten Geburt? Oder schmerzt Merz, was er, Jahrgang 1947, an Wunden und ausgemergelten Schatten sah? Schatten, die erst allmählich im Fett der Wirtschaftswunderjahre zerschmolzen. “Dove sta memoria” fragte er sich und sein Publikum vor einem Jahr im Münchener Kunstverein. Das heißt auf deutsch: “Wo gibt es Erinnerung?” Der Satz läßt sich aber auch so übersetzen: “Wo steht die Erinnerung?” Etwa diesseits oder jenseits der Alpen? Merz scheint der Antwort auszuweichen, indem er sich auf den schmalen Grat zwischen beiden Entscheidungen begibt. Stichwort Brenner: Schon Goethe wurde an diesem Ort auf 1371 Metern Höhe hin- und hergerissen: “Von hier fliesen die Wasser nach Deutschland und nach Welschland diesen hoff ich morgen zu folgen. Wie sonderbar, daß ich schon zweymal auf so einem Punckte stand, ausruhte und nicht hinüber kam!”1 Was dem Geheimen Rath in der zweiten Septemberwoche des Jahres 1786 denn doch gelang, ist für Gerhard Merz nachgerade Routine. Italien wurde ihm zur wahlverwandten Zweitheimat, die er regelmäßig besucht. Am Titel seiner Alpenübergangs-Arbeit ist es zu spüren. Wie jeder gewissenhafte Grenzbeamte der Repubblica Italiana spricht Merz von “Brennero”. Ein solides Stück Schreinerei: Drei längliche Tafeln, eine grün, eine weiß, eine rot, werden von dunklem Holz in der Manier griffester Kneipen-Einrichtungen gefaßt. Auf der gegenüberliegenden Wand des grau-grünen Saales XII in Baden-Baden eine weitere Arbeit – zwei bronzene Rutenbündel. Fasces. In einer weist das Beil nach links, in der anderen deutet es nach rechts.
Wird hier…