Jochen Becker
Gegendarstellung – Ethik und Ästhetik im Zeitalter von AIDS
Kunstverein Hamburg, 15.5. – 5.7.1992
Kunstmuseum Luzern, 2.10. – 22.11.1992
Ein junger Mann tanzt einsam auf einem glühbirnenumsäumten Podest. Unter seinem Walkman-Kopfhörer dringen Musikfetzen hervor. Nur mit Sneakers und einem silberbesetzten Slip bekleidet, bewegt er sich als autistischer Disco-Performer oder selbstverliebter Attraktor einer Gay-Bar und füllt spielend den beinahe leeren Saal in der südlichen Deichtorhalle aus. Nach fünf Minuten verschwindet er wieder; zurück bleiben einige schwarze Striemen auf dem weißen Varieté-Podest. Das Fehlen des durchtrainierten Go-Go-Tänzers bemerken nur die wenigen, welche seinen Tanz kennengelernt haben.
Der tagtägliche, jedoch unangekündigte und unregelmäßig angesetzte Tanz, initiiert vom New Yorker Künstler Felix Gonzales-Torres, ist einer der wenigen Beiträge zur Hamburger Präsentation “Gegendarstellung – Ethik und Ästhetik im Zeitalter von AIDS”, welche sich nicht in den bis hin zur Hallenaufteilung unüberbrückbar scheinenden Polen “verantwortliches Handeln” und “gestalterische Schönheit” verfängt. Ansonsten ist die Ausstellung gespalten in leere, die Bedeutung aufladende und in sich ruhende Räume für die Kunstobjekte (Plastiken, Leuchtkästen, Fotoarbeiten) und dichte, tönende, kommunikative Abschnitte für die Informationsvermittlung (Büchertisch mit Kaffeeausschank, Videoraum, Wandzeitung).
Anhand einer “AIDS-Timeline” – die Zeitschiene reicht vom Bekanntwerden erster AIDS-Toter 1979 bis heute und ist einer Arbeit der amerikanischen “Group Material”, welcher auch Gonzalez-Torres angehört, entlehnt – lassen sich die regierungsamtliche Darstellung und die von Aktivisten betriebene Gegendarstellung deutlich ablesen. Die ausladende, allein auf die USA bezogene Wandzeitung reiht die Chronologie der Ereignisse – Veröffentlichungen zur Epidemie, Äußerungen aus Politik und Pharmazie, Aktionen der “ACT UP”-Gruppierungen – entlang einer roten Linie auf. Erst 1985, mit dem Tode von Rock Hudson und Jahre nach Entdeckung des HIV, wird der Begriff AIDS gesellschaftsfähig. Seitdem explodiert die vorher kümmerliche Debatte, welche sich an der ab hier die Wand schlagartig überwuchernden Materialfülle niederschlägt.
Plakate, Videos, Demonstrationen, Aktionen und Proteste trugen in New York und San Francisco zur Mobilisierung Tausender bei. Schon früh wurde die diffamierende “AIDSpeak” angeprangert, welche in der Wortwahl (Schwulenseuche, AIDS-Opfer etc.) unzutreffende Schuldzuweisungen und Homophobie propagiert. Statt dessen schlugen Plakate eine neue Sprachregelung vor. Die mitgeführten Schilder, Handzettel und wild plakatierten Poster – in der Ausstellung durch Brauchspuren mit besonderer Authentizität aufgeladen – hängen oder lehnen nunmehr an der Wand. Eine distanzschaffende Historisierung in Erinnerung an alte Tage bleibt aus.
Nicht nur in politischer, sondern auch in ästhetischer Sicht sondiert “Gegendarstellung” fremdes Territorium. Für die 1987 gegründete “AIDS Coalition To Unleash Power” (ACT UP) und die mit ihr eng verbundenen Künstlergruppen wie “Gran Fury”, “Fierce Pussy, “Wham” oder den Videoaktivisten “Testing the Limits” stellte sich erst gar nicht die akademische Frage, wieviel Ethik die Ästhetik verkraftet. In den “ACT UP”-Gruppierungen hatte Ästhetik eine zuarbeitende und zielgerichtete Funktion: Kunst, Werbung und Agitation dienten ihnen als Mittel zum Zweck; Widersprüche wurden pragmatisch überwunden.
So mißtrauen sie den wohltätigen Versteigerungen: “Für den Künstler reduziert sich seine Beziehung zu AIDS auf eine des Kaufens; man nimmt einfach die Rolle des Wohlhabenden an und erwirbt mit dem Werk eines anderen ein Verhältnis zur Krise.” Diese Schauveranstaltungen – Bestandteil jeder deutschen Kunst- messe – entsprechen laut “ACT UP”-Aktivist Douglas Crimp genau der von Bush propagierten freiwilligen Hilfestellung. Doch dies entbände nur den Staat von seiner Verantwortung. Kunst soll nicht als Ware ökonomisch helfen, sondern zur Etablierung und Mobilisierung der Öffentlichkeit beitragen und dabei “die Regierung zu verantwortungsvollem Verhalten bringen”. Statt über den entfremdenden Umweg des Geldes fordert aktivistisches Vorgehen eine wirkliche Auseinandersetzung mit AIDS: Erst wenn ich weiß, wo das spezifische Problem sitzt (Recherche) und wen ich erreichen muß, um eine Lösung herauszufordern (Sozialstudie), kann ich eine wirksame Aktion (persönlichen Einsatz/Praxis) starten.
Als gelungenes Beispiel der “Gegenpraxis” nennt Crimp die in Hamburg aushängende “New York Crimes”, ein von “Gran Fury” entwickeltes neues Deckblatt im Stil der “New York Times”, welche um 6000 Original-Tageszeitungen in den Straßenautomaten gelegt wurde. Mit einfachen Mitteln konnte so ein klar adressierbares Publikum erreicht werden, dem man Texte und Grafiken – eine Montage aus vergrößertem Virus und der Stadtverwaltung zeigt den wahren Verursacher von AIDS – aus Sicht der Betroffenen zuspielen konnte. Plakative und inzwischen auch hier gebräuchliche Slogans wie SILENCE = DEATH, AIDS NOW oder AIDSGATE sind äußerst einprägsam. “Diese Art von wortspielerischem Umgang mit Sprache ist für die Leute sehr attraktiv. Die Menschen merken sich das, und sie lernen davon” (Crimp). Der Abdruck einer blutbefleckten Hand, Zielscheibenringe auf Politikerköpfen oder ein umgedrehter, nunmehr aufwärtsweisender rosa Winkel können im multilingualen Vielvölkerstaat, aber auch bei Analphabeten Wirkung zeigen.
Im Unterschied zum Benneton-Plakat, welches das Siechtum eines einzelnen Erkrankten verbreitet, verwahrt sich “ACT UP” gegen die isolierende Opferrolle der “People With AIDS”. Anhand der inzwischen auch auf dem Kunstmarkt vertriebenen Leidensbilder könne man nicht verstehen, warum die Freigabe von Medikamenten verzögert wird, das Gesundheitssystem klassen- und rassenspezifisch vorgeht und Frauen, Latinos oder Drogenbenutzer als Betroffene ausgegrenzt bleiben. Umgekehrt verwandte “Gran Fury” ein multikulturelles Benneton-Motiv: “Küssen tötet nicht. Gier und Gleichgültigkeit schon”, lautet die neue Botschaft.
In einer wundersamen Umdeutung der modischen “Appropriation Art”, wie sie Sturtevant, Levine oder Bidlo einzig auf Klassiker der Moderne anwandten, werden auch Methoden politisch-informativer Kunst (Haacke, Kruger, Holzer; aber auch sozialistische Politkunst oder Aktionsformen der Situationisten) auf ihre Brauchbarkeit hin untersucht und – dem Musiksampling vergleichbar – angeeignet. Wiedererkennbarkeit der Stilmittel soll zusätzlich die als Multiplikator wichtigen Kunstzirkel anlocken, ohne den übrigen durch Kunsthaftigkeit den Blick auf die Botschaften zu versperren. Im Unterschied zur Werbung ist Rücksichtnahme auf den finanzkräftigen Auftraggeber nicht notwendig; auch ohne den Segen von “ACT UP” sprießen zahlreiche, über Nacht hergestellte Druckwerke hervor. Die anonymisierten Entwürfe gehören niemandem und sind trotzdem nicht “Public Domain”: Wie bei Popkonzerten finanziert sich “ACT UP” durch Merchandising von T-Shirts, Buttons und Aufklebern.
“Es macht sich ein allgemeines Gefühl breit, daß man nicht aus einer Kunstakademie kommen muß, um so etwas zu tun”, kommentiert Douglas Crimp diese Kunstbewegung. Erstaunlicherweise ist die Trivialisierung der Kunst ausgeblieben. Aus Sicht der Künste bringt die AIDS-Bewegung ganz im Gegenteil neue künstlerische Ausdrucksformen (informative und narrative Kunst, unübersehbare Arbeiten im Außenraum, aktivistische Happenings, Agitprop-Kunstvideo als Mischung aus Gegenöffentlichkeit, Dokumentarfilm und MTV-Clip etc.) hervor. “Im Gegensatz zu den normalen Mediaberichten über AIDS wurde ‘Voices from the Front’ ein komplexes, politisch attraktives Stück parteiischer Journalismus, in dessen Zentrum Leben von AIDS-Kranken standen”, beschreibt die mit “ACT UP” sowohl personell als auch räumlich eng liierte Videogruppe “Testing the Limits”.
Während in den USA der rapide Anstieg der Zahl der AIDS-Toten aktivistische Bewegungen zum raschen Handeln zwang, begnügt man sich in der Bundesrepublik mit familienfreundlichen TV-Spots und der Gründung gesundheitsamtlicher Hilfsstationen. Die Hamburger Ausstellung – initiiert vom neuen Leiter des Kunstvereins, Stephan Schmidt-Wulffen, und betreut durch den New Yorker Kunstvermittler Simon Watney – wirbt mit einer importierten Darstellung für eine Bewegung, die in dieser Form gar nicht mehr existiert, während man über den Stand der Dinge hier unverständlicherweise kein Wort verliert. In völliger Verkennung der Situation wurde von den Ausstellungsmachern eine Werbeagentur beauftragt, Katalog und Plakat für die Ausstellung zu entwerfen; dagegen begründet sich “ACT UP” durch Selbstauftrag und Eigeninitiative, um mit dem aus Werbeagenturen und künstlerischer Produktion abgeschöpften Wissen für ihre konkreten Forderungen auf die Straße zu gehen. Die Hamburger Ausstellung verleibt die AIDS-Bewegung ohne merkliche Rücksprache in den hermetischen Kunstkontext ein.
Die aktivistische Bewegung wäre nicht nur in künstlerischer oder journalistischer, sondern auch in politischer Hinsicht als Vorbild dienlich: Dem linken, sich selbst isolierenden Muff ist eine breite Front entwachsen, die – hochmotiviert, lebensbejahend und mit intellektueller Brillanz, lauthals skandierend, pfeifend und agierend – ihre Demonstrationen als erfolgreiches Druckmittel einsetzt. Unverkennbar ist dabei die blinde Wissenschaftsgläubigkeit von “ACT UP”: Man erhofft sich durch Druck auf Regierung und Forschung direkte Heilung: Demgegenüber vertreibt der “700 Club” illegale, im Zuge langer Testreihen noch nicht freigegebene Medikamente an diejenigen, welche die Zulassung nicht mehr erleben würden.
Alle Werkzeuge des politischen Kampfs orientieren sich am Gebrauchswert. Man beläßt es nicht beim Auf-sich-aufmerksam-Machen, sondern veranlaßt, daß die genau anvisierten Verwaltungsinstanzen zügiger handeln: “Call the White House (202) 456-1414. Tell Bush we’re not all dead yet”, hat “Gran Fury”-Mitglied Donald Moffett auf einem seiner poppigen Leuchtkastenarrangements anbringen lassen. “Fotografie kann Leben retten”, behauptet David Wojnarowicz, aus dessen politisch attackierter “Sex Series” einige Montagen aus Kriegs- und Liebesszenen – schwarz-weiß und negativ abgezogen – ausgestellt sind.
Die untertitelten Bilderserien von Nan Goldin, welche einen ganzen Saal in Anspruch nehmen, bewegen sich zwischen tagebuchartiger Kunstfotografie und engagiertem Journalismus: Handschriftlich kommentiert sie die Aufnahmen von ihrer besten Freundin Cookie Mueller und deren wildes Leben. Schnappschüsse auf Parties oder auf dem Klo werden von einem offenstehenden Sarg unterbrochen, in dem Cookies Mann liegt. Später sieht man sie bei Röntgenaufnahmen – Cookie konnte da schon nicht mehr sprechen -, einen Monat später ist sie selbst im rötlich glimmenden Schrein aufgebahrt, zum Schluß ein Blick auf die menschenleere Wohnung. In einer zweiten Serie präsentiert Nan Goldin an AIDS Gestorbene oder Erkrankte. In extrem körnigen Grauwerten aufgelöste Fotos fertigte Brian Weil von einer AIDS-Infizierten und ihren beiden Kindern, welche er sechs Jahre als Sozialarbeiter betreute. “Als ihr Baby Vera ins Krankenhaus kam, begriff Elena, daß es sterben würde, und bat mich, ein Foto von ihm zu machen. Das war das erste Bild des Projekts.” Am Ende überlebte nur das zweite Kind seiner Mutter. “Mir kommt immer wieder in den Sinn, daß ich, wenn Elena stirbt, dieses Foto nicht mehr sehen möchte. Ich will sie nicht mehr sehen.”
Gegenüber den sehr persönlichen, emotionalen und dokumentarischen Arbeiten wirken die elaborierten Kunstwerke anderer Teilnehmer merkwürdig distanziert. Andres Serrano – von ihm stammte der skandalumwitterte “Pissed Christ” – erstellte Fotografien von erlesener Schönheit. Seine cremeweißen oder schlierenhaft rötlichgelben Bilder erinnern an abstrakt-expressive Malerei. Der Titel verrät die kräftig vergrößerten Motive: Sperma, Blut und weitere, zum Teil gefrorene Körperflüssigkeiten. Dem Gegenstand noch ferner, aquarellierten Tim Rollins und seine “Kids of Survival” einzelne Buchseiten aus Flauberts “Temptation of Saint Antony” in pastosem Rot. Demgegenüber ist die Idee der Kuratoren, eine Video-Wichskabine inmitten des Timeline-Raums aufzustellen – hier kann man wahlweise ausgelassene Aufklärungsfilme, Latextuchanwendungen beim Analverkehr oder Videos für schwule Hispanics betrachten -, eine unkonventionellere Strategie: Mit der Aufschrift “Zutritt nur ab 18 Jahren” versehen, erlaubt es jedem Besucher, bei geschlossener Tür dem obskur geglaubten Treiben beizuwohnen.
Während “Gegendarstellung” ausschließlich US-amerikanische Positionen präsentiert, lud 1988 der Berliner “NGBK” zur “Vollbild”-Ausstellung verschiedene deutsche Selbsthilfegruppen ein, ihre Aktivitäten vorzustellen. Außerdem enthielt der Katalog einen wichtigen sozial-medizinischen Beitrag. Sieht man einmal von den im direkten Vergleich jämmerlich konventionellen deutschen AIDS-Hilfe-Plakaten ab, welche den “ACT UP”-Poster gegenübergehängt wurden, bleibt die Hamburger “Gegendarstellung” bis auf die Filmveranstaltungen – wiederum hauptsächlich US-Videos – und eine Diskussionsrunde Importware. Die fehlende Ãœbertragbarkeit auf hiesige Verhältnisse schmälert den Informationswert der Ausstellung, nicht jedoch den Vorbildcharakter der Arbeiten: “With 42 000 dead ART IS NOT ENOUGH” (Angesichts 42 000 Toter IST KUNST NICHT GENUG) textete “Gran Fury” schon vor vier Jahren.
Die Begleitbroschüre kostet 20 Mark; weitere Publikationen waren am Büchertisch erhältlich. Empfehlenswert: Douglas Crimps Buch “AIDS Demo Graphics” und – leider nur als Teil der Wandzeitung – der Ausstellungskatalog “Vollbild”, herausgegeben von Frank Wagner/NGBK.