Verschiebungen, Verdichtungen, Antizipationen, Rückblicke
Liliane Weissberg
Erinnerung, Geschichte, Kommunikation:
Gedanken zu einem Bild Keith Harings
»Aber Keith ist keiner, der sich Dinge und Ideen aneignet.«
Leo Castelli1
I. New York, New York
Im September 1978 zog Keith Haring nach New York.
Der damals zwanzigjährige Haring war in Kutztown, Pennsylvanien, aufgewachsen und besuchte für kurze Zeit die Kunsthochschule in Pittsburgh. Nach einer ersten Phase als religiöser Jesus Freak hatte sich Haring Drogen zugewandt, trampte durch Amerika und begann, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Im New York der späten siebziger Jahre fand er eine Szene, die sexuelle Freiheit betonte, und eine Kunstakademie, die ihm den Freiraum gab, zu experimentieren. Bereits seine frühen Arbeiten an der School of Visual Arts zeigten den Versuch, seine Erfahrungen in Clubs und Badehäusern zum Ausdruck zu bringen; er beschreibt später Sex als seine “Obsession”.2 “Eines Tages”, bemerkt die Bildhauerin Barbara Schwartz, “sagte ich zu (meiner) Klasse: ‘Suchen Sie sich ein Thema und entwickeln Sie es.’ Keith brachte 300 Zeichnungen von Penissen! Und sie waren gut. Und witzig.”3
Harings Arbeiten waren von Cartoon-Zeichnungen beeinflußt. Aber der Maler, der sich trotz seiner bürgerlichen Herkunft als Straßenkind verstand, lernte in New York auch die Arbeiten anderer – schwarzer, hispanischer – Straßenkinder kennen. Gebäudewände und öffentliche Verkehrsmittel waren mit bunten Graffiti-Zeichen bedeckt, und Haring, auf der Spur nach diesen anderen Straßenjungen, die ihre Arbeiten mit Kürzeln identifizierten, sah im Graffiti, trotz dieser Signaturen und Gesten traditioneller Autorenschaft, eine neue, kollaborative, öffentliche Kunst. 1978 organisierte Haring seine erste Ausstellung in Pittsburgh. Und obwohl er in den folgenden…