Michael Hübl
Galgen für die marode Mutter?
Der Baum in Mythologie, Kunstgeschichte und Gegenwartskunst
Heidelberger Kunstverein 27.9.-30.11.1985
Stadtgalerie Saarbrücken 15.12.1985-23.2.1986
Am Brunnen vor dem Tore steht seinesgleichen schon lange nicht mehr. Und selbst dort, wo er nicht in ‘splendid isolation’ das Weichbild seines Ortes zierte, sondern dicht gedrängt sich zu so klangvollen und sagendurchwobenen Namen wie den Schwarzwald vereint, siecht er dahin oder ist er gar schon tot: der Baum. Daß ihm Gefahr droht, wußten schon die Skalden Islands. Im »Grimnismàl«, das einen Teil der Edda bildet, ist die Rede von der Weltesche Yggdrasil: Ihre Knospen fressen vier Hirsche kahl, Würmer zerstören ihre Faserwurzeln und an den drei großen Stammwurzeln nagt Nidhögg, der Drache, während an des Baumes Flanken die Fäulnis frißt. »Die Esche Yggdrasil muß Unbill leiden / mehr als man meint«,1 heißt es lapidar in der 33. Strophe. Dabei bedeutet Yggdrasil nichts anderes als einen jener Weltenbäume, wie ihn zahlreiche Mythologien kennen als Symbol für das, was Himmel und Erde zusammenhält. In China etwa, in der taoistischen Mythologie und Kosmologie gibt es »Chienmu«, den himmeltragenden, erddurchwurzelnden Weltenbaum.2
Und immer wieder und allenthalben ist der Baum Sinnbild des Lebens – nicht allein in der christlichen Religion, die neben den ‘arbor cognitionis’, den Baum der Erkenntnis, den ‘arbor vitae’ als Baum des Lebens stellt. Noch die – bis weit in dieses Jahrhundert hinein auf Island praktizierte – Sitte, den Toten ein Bäumchen aufs Grab zu pflanzen, damit aus dem verwesenden Leichnam etwas Neues in die Welt wachse, noch der Tannenbaum oder der…