Fremde sind wir alle
Immanuel Kant, der deutsche Philosoph, hatte “das Recht eines Fremdlings” reklamiert, “seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden”, und es aus der “Kugelfläche” der Erde abgeleitet, die zur Folge hat, dass sich die Menschen “nicht ins Unendliche zerstreuen können”. In ihrem Buch “Fremde sind wir uns selbst” (1990) hat Julia Kristeva Kants Kosmopolitismus einen neuen “moralischen Imperativ” erblickt, den sie, der Analyse des Unheimlichen von Sigmund Freud gegenüberstellend, auf die Formel bringt: “Der Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. “Eine ihrer Kernfragen wünschte man sich am liebsten als Hoffnung und Wirklichkeit für die Zukunft: “lst es möglich, dass der ‘Fremde’, der in früheren Gesellschaften ein Feind war, in den modernen Gesellschaften verschwindet? “Kristeves Diskurs über den Fremden, seine Rolle, seine Rechte, seinen Status, ist vor allem deshalb sehr lesenswert, weil die Autorin die französische Manier, zwischen Recherche, Polemik, Poesie, Argumentation und Analyse hin- und herzuschweben, vorzüglich beherrscht. Hier eine Leseprobe:
Fremder: erstickte Wut tief unten in meiner Kehle, schwarzer Engel, der die Transparenz trübt, dunkle, unergründliche Spur. Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt. Er ist weder die kommende Offenbarung noch der direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden.
Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die…