Relektüren
Folge 69
Rainer Metzger
Der Erfolg ihrer Jugenderinnerungen weiter leben war längst unvermeidbar, da schrieb sich Ruth Klüger eine Fortsetzung von der Seele. unterwegs verloren überschreibt sie diesen zweiten, 2008 erschienen Teil ihrer Autobiografie mit deutlich pessimistischem Titel. Sie erzählt darin vom ersten Teil: Sie lässt mit unverhohlener Schadenfreude Revue passieren, wie Suhrkamp weiter leben ablehnte, weil man mit der Weltsensation der Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1930–1948 eines gewissen Binjamin Wilkomirski kalkulierte, dessen Erlebnisse aus dem Holocaust sich als „frei erfundene Horrorgeschichten eines Schweizer Arztes“, wie Ruth Klüger sarkastisch kommentiert, herausstellten (Unterwegs verloren. Erinnerungen, Wien 2008, zitiert nach Ausgabe dtv München 2020, 163); oder sie erzählt vom titelgebenden Bruch mit Martin Walser, den sie 1947 als Displaced Person in Regensburg kennengelernt hatte, der als „Christoph“ schon in weiter leben vorkommt, der ihr stets als Verkörperung eines besseren Deutschland gegolten und die Veröffentlichung von weiter leben vehement unterstützt hatte, und der dann mit seiner notorischen Reich-Ranicki-Mordphantasie namens Tod eines Kritikers einen Antisemitismus vor sich her trug, der für Ruth Klüger unheilbar geworden war (im Buch ist ihre als offener Brief an Walser gehaltene Rezension des Romans publiziert, die sicher zum besten gehört, was das Genre zu bieten hat).
Mit all dem im Gepäck macht sie zusammen mit einer Freundin eine Kreuzfahrt. Die Reiseeindrücke bilden den Epilog von unterwegs verloren, ein wenig verschämt sucht sie Zeilen zu finden dafür, dass „sie jetzt also zu den Reichen dieser Welt“ gehört (ebenda S. 219). Gleichwohl lässt sie es sich gut gehen auf der Fahrt von Venedig…