Martin Seidel
Fluss und Überfluss
Schönheit in Form, Farbe und Material
Material, Farbe und Zeichnung sind engstens zusammenhängende, immer wieder aber auch kategorial und gattungsmäßig gegeneinander ausgespielte künstlerische Prinzipien. Die Geschichte des Antagonismus von Farbe und Zeichnung ist alt und hat auch etwas mit unterschiedlichen Auffassungen von Schönheit zu tun. Die primär der Zeichnung verpflichtete Form ist stärker als die Farbe gegenstandbildendes Element. Sie war und ist zuständig für die Organisation der Bildanlage, für Proportion und Perspektive, die als Transmitter und Elemente der Schönheit dienen. Damit bedeutet Zeichnung eine dem einzelnen Sujet übergeordnete prinzipielle “Klarheit” und Ordnung der Bilddisposition. Sie ist intellektuell und konzeptualistisch und stand in der Kunsttheorie als “innere Zeichnung” (“disegno interno”) lange für die Idee des Kunstwerks an sich und als äußere Zeichnung (“disegno esterno”) zugleich für dessen Ausführung.
Ästhetische Grundsatzentscheidungen
Diese alte Faszination für die letztlich höher als das ausgeführte Werk selbst bewertete Idee eines Kunstwerks spiegelt sich noch in der äußerlich “design”-orientierten Konzeptkunst eines Joseph Kosuth (Jahrgang 1945) wider, der sich in “One and Three Chairs” (1965) mit Platos Ideenlehre auseinandersetzte und ein Ding als Ding, als Bild und als Begriff auf seine Wirklichkeitsgehalte befragte. Schnell gelangt man grundsätzlich zur Schönheit, wenn man beispielsweise fragt, was “schöner” ist: die sinnlich überwältigende, sich ob ihrer Größe aber nicht als Ganzes erschließende gebaute steinerne Kathedrale oder ihr Bild, der Aufriss, der die komplexen dahinter stehenden Ideen in unmittelbarer grafischer und geistiger Prägnanz anschaulich werden lässt?
Noch bevor die Zeichnung zur allseits geschätzten autonomen künstlerischen Gattung wurde, stritten Malerschulen um den Primat der…